Richtig aufgearbeitet wurde die deutsche Kolonialgeschichte nie. Doch im Kolonialismus liege eine der maßgeblichen Ursachen für rassistische Verhältnisse in der hiesigen Gesellschaft, sagt Tahir Della von der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland. Im Südlink-Interview spricht er über das geplante Konzept zur Dekolonisierung Berlins, koloniale Kontinuitäten und die Debatte um die Restitution von Raubgütern.

Warum braucht Berlin als Stadt ein Aufarbeitungskonzept zur kolonialen Vergangenheit?

Alle Städte bräuchten solch ein Konzept. Berlin bietet sich als Blaupause an, weil hier zentrale politische Entscheidungsstellen wie zum Beispiel das Reichskolonialamt und der Kaiser ihren Sitz hatten. Auch die Afrikakonferenz 1884/1885, auf der der Kontinent unter den europäischen Mächten aufgeteilt wurde, fand hier statt. Neben Hamburg und Bremen war Berlin zudem  erste Anlaufstelle für Menschen afrikanischer Herkunft, die aus den damaligen Kolonien nach Deutschland migriert sind. In der Stadt sind viele koloniale Spuren zu entdecken oder bereits sichtbar.

Um welche Spuren geht es?

Bisher hat sich die Diskussion vor allem an den Themen kolonialer Straßennamen und Sammlungen in Museen entfaltet. Wir wollen aber darüber hinausgehen. Wie kann man das Thema zum Beispiel mit Projekten und Aktivitäten in Schulen, Bildungseinrichtungen oder Stadtbibliotheken hineintragen? Der Slogan „Dekolonisiert euch“ muss beinhalten, erst einmal die Thematik zu erforschen und sichtbar zu machen, was während der 500 Jahre Kolonisierung eigentlich passiert ist. Das kann sich an den Straßennamen entfalten, soll dort aber nicht stehen bleiben. Wir wollen die Menschen in den Bezirken für das Thema gewinnen.

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In den kommenden zwei Jahren soll nun ein Aufarbeitungskonzept erstellt werden (siehe Kasten). Wie bewerten Sie die Herangehensweise des Berliner Senats?

Nach der Wahl von Rot-Rot-Grün in Berlin im Jahr 2016 haben wir Kultursenator Klaus Lederer auf die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit angesprochen, die bereits im Koalitionsvertrag angelegt ist. Er wollte das zunächst auf einen Bereich herunterbrechen, beispielsweise Museen, Sammlungen und öffentlicher Raum.

Wir haben nun zwei parallel laufende Prozesse: Ein zweijähriges Projekt zur Ausarbeitung des Konzepts sowie ein fünfjähriges Kulturprojekt mit Ausstellungen und Veranstaltungen. In dem „Stadtweiten Konzept“ soll Kolonialismus als Querschnittsthema bearbeitet werden, das heißt nicht auf Kultur begrenzt bleiben.

Welche Chance liegt darin, Kolonialismus als Querschnittsthema zu definieren?

Es soll deutlich werden, dass Themen, die meistens separat besprochen werden wie Klimagerechtigkeit, Migration und Flucht oder globaler Handel und Lieferketten als Auseinandersetzung mit der kolonialen Geschichte verhandelt werden müssen. Es soll nicht einfach ein zentraler Gedenkort wie ein Monument entstehen, sondern wir wollen darüber hinaus berlinweit verschiedene Bereiche einbeziehen und Lernorte schaffen. Als Querschnittsthema kann die Aufarbeitung in viele gesellschaftliche Bereiche wirken und deutlich machen, dass auch heute noch Menschen von den kolonialen Strukturen profitieren.

Welche kolonialen Kontinuitäten wirken bis heute fort?

Im Kolonialismus liegt eine der maßgeblichen Ursachen für rassistische Verhältnisse in der hiesigen Gesellschaft. Das Bild von Afrika und Schwarzen Menschen ist stark geprägt von kolonialrassistischen Ideen: Unterentwickelt, geschichtslos, nicht in der Lage, in die Zukunft zu schreiten. Diese rassistischen Verhältnisse lassen sich nur dann umfassend abbauen, wenn wir uns die Geschichte einmal komplett anschauen.

Koloniale Machtverhältnisse sind noch immer wirksam, europäische Länder beuten ihre ehemaligen Kolonien bis heute aus. Das führt direkt zu Migration und Flucht. Es geht nicht darum, die Menschen heute für etwas zu beschuldigen, was sie selbst nicht getan haben. Es geht darum, Verantwortung für die Geschichte zu übernehmen.

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Warum tut sich konkret die Bundesregierung so schwer damit, die Verantwortung für den Genozid an den Herero und Nama zu übernehmen?

Das Schlimme ist, dass die Regierung nicht anerkennt, dass sich diese Verantwortung auch materiell ausdrücken muss. Es gibt Befürchtungen, dass die Zahlung von Reparationen an Namibia ähnliche Forderungen anderer Länder wie Tansania, Italien oder Griechenland nach sich ziehen würden. Diese Weigerung zeigt, dass sich Wiedergutmachung in den Köpfen immer nur in Geld ausdrückt. Die Regierung Namibias fordert gar nicht irgendeine Unsumme. Es geht vielmehr darum, ein Verbrechen einzugestehen, die Nachfahren um Entschuldigung zu bitten und sich mit ihnen gemeinsam an einen Tisch zu setzen. Die Herero und Nama aber sind in die Verhandlungen gar nicht eingebunden.

Stadtweites Konzept zur Dekolonisierung Berlins

Ausgangspunkt für ein gesamtstädtisches Aufarbeitungskonzept ist der Koalitionsvertrag der Rot-Rot-Grünen Landesregierung in Berlin für die Legislaturperiode 2016-2021. Deutlicher als je ein Senat zuvor bekennt sich Rot-Rot-Grün darin zu der Verantwortung für die Folgen des deutschen Kolonialismus. An mehreren weiteren Stellen geht der Koalitionsvertrag ausdrücklich auf den deutschen Kolonialismus ein und betont schließlich im Bereich Internationales, die Koalition werde „die Rolle Berlins während der Kolonialzeit stärker beleuchten und sucht dabei die Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Initiativen“.

Auf dieser Grundlage hat der Senat ein Projekt aufgelegt, das bundesweit zum Vorreiter für die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit werden könnte. Um sicherzustellen, dass sich daran alle relevanten kommunalen und zivilen Akteur*innen beteiligen, hat Berlin für den Zeitraum 2020 bis 2021 eine Koordinierungsstelle bei dem zu diesem Zweck gegründeten Verein „Decolonize Berlin“ eingerichtet. Dieser setzt sich aus Schwarzen und afrikanischen, postkolonialen sowie entwicklungspolitischen Gruppen zusammen, die schon lange zu dem Thema arbeiten. In den kommenden zwei Jahren wird „Decolonize Berlin“ ein „Stadtweites Konzept zur Dekolonisierung Berlins“ ausarbeiten. Parallel dazu läuft ein fünfjähriges Kulturprojekt, das vom Land Berlin und der Kulturstiftung des Bundes finanziert wird.

Wieso hält sich in weiten Teilen der deutschen Gesellschaft das Bild, Deutschland sei als Kolonialmacht gar nicht so schlimm gewesen?

Das hat zum einen viel mit Verdrängung zu tun. Zum anderen wird Geschichte oft nicht als Kontinuität betrachtet sondern als Epoche. Der Faschismus zwischen 1933 und 1945 beispielsweise losgelöst davon, was vorher und was nachher war. Dadurch konnte die koloniale Epoche lange ausgeblendet werden. Im Vergleich zu anderen europäischen Mächten hat sich Deutschland als der bessere Kolonisierer dargestellt.

Wenn man genau hinschaut, war das aber keineswegs der Fall. Deutschland hat im heutigen Namibia den ersten Völkermord im 20. Jahrhundert verübt. Verfolgung, Mord und Versklavung betrieb Deutschland aber zum Beispiel auch in Ostafrika. Die Chance eines Aufarbeitungsprojektes liegt auch darin, den Kolonialismus historisch einzubetten in die Ideengeschichte, die rassistischen Ideen als Vorläufer während der Aufklärung.

Dieses Jahr soll das Humboldt Forum eröffnen. Welche Rolle spielen die Berliner Museen in dem Aufarbeitungskonzept?

Die Debatte über Raubgüter und Restitution ist relativ neu. Vor allem gemessen daran, wie lange diese Objekte schon hier sind. Daran wie die Debatte geführt wird lässt sich ablesen, wie koloniale Machtverhältnisse wirken. Dass nämlich die Besitzer des Raubguts darüber bestimmen wollen, wie der Prozess der Restitution aussehen soll. Es muss aber genau andersherum sein. Wir brauchen Transparenz darüber, welche Objekte und Gebeine sich in unseren Sammlungen und Depots befinden, und dann ist die Frage entscheidend, was die Ursprungsländer wollen. In den Museumskreisen gibt es die Idee, dass nun eine Zirkulation stattfinden soll, bei der die Objekte zeitlich unbegrenzt an Länder des globalen Südens verliehen werden, aber im Besitz der einstigen Kolonialmächte bleiben. Das zeigt, dass kein echter Wille besteht, den Raub als solchen zu behandeln.

Im vergangenen Jahr ist die Debatte um Restitution stark hochgekocht. Bewegen sich die Museen denn gar nicht?

Innerhalb der Museumsstrukturen gibt es viele Menschen, die sich mit dem Thema beschäftigen, sich die Vorstellungen der Herkunftsländer anhören und etwas verändern wollen. Gleichzeitig betreiben die Entscheidungsträger in den Museen immer noch Besitzstandswahrung und wollen nicht wirklich etwas zurückgeben.

Es liegt noch ein langer Weg vor uns, um den Menschen gemeinsam Kultur zugänglich zu machen. Das muss auch nicht immer bedeuten, dass Land A Land B etwas zurückgibt. Viele Leute aus dem globalen Süden sagen, dass schon viel getan wäre, wenn sie die Objekte überhaupt mal anschauen könnten. Das ist aber nicht möglich, weil sie keine Visa bekommen.

Zum Autor

Tahir Della ist seit 1986 aktives Mitglied bei der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD). Seit 2019 arbeitet er für die ISD als Promotor für Dekolonialisierung und Anti-Rassismus im Berliner Eine-Welt-Promotor*innenprogramm.

Das Interview führte Tobias Lambert im Januar.

Tahir Della ist seit 1986 aktives Mitglied bei der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD). Seit 2019 arbeitet er für die ISD als Promotor für Dekolonialisierung und Anti-Rassismus im Berliner Eine-Welt-Promotor*innenprogramm.

Das Interview führte Tobias Lambert im Januar.

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