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COVID-19: Mehr Hunger und Ungleichheit

Die COVID-19-Pandemie offenbart die Krisenanfälligkeit des globalen Ernährungssystems – und bietet eine Chance für eine grundlegende Veränderung.

von Lena Bassermann
Veröffentlicht 21. APRIL 2021

Weltweit treffen die Auswirkungen der Corona-Pandemie die Ärmsten der Armen besonders hart. Länder im globalen Süden beklagen zwei von drei Corona-Toten. Gleichzeitig steigt in vielen Teilen der Welt die Anzahl der Hungernden, es kommt zu Hungerprotesten und Engpässen in der Versorgung mit Lebensmitteln. Diese können nicht geerntet werden und verrotten auf den Feldern, Erntehelfer*innen verlieren ihre Jobs und auch die menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen in Schlachthäusern geraten in das Blickfeld der Öffentlichkeit. Damit legt die COVID-19-Pandemie auf erschreckend drastische Weise Fehler im globalen Ernährungssystem offen. Die Art und Weise, wie Lebensmittel weltweit angebaut, verarbeitet, vermarktet und konsumiert werden, muss endlich grundlegend verändert werden.

Das genaue Ausmaß der Folgen der Corona-Krise ist noch nicht absehbar, doch die Prognosen sind mehr als besorgniserregend. Bereits Mitte März warnte die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (Food and Agriculture Organisation, FAO) vor einer drohenden Hungerkrise. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (World Food Programme, WFP) hat Mitte April die Befürchtungen der FAO bestätigt und mit Zahlen unterlegt. Demnach könnte sich die Zahl derjenigen, die verhungern könnten, bis Ende des Jahres von 135 Millionen auf 265 Millionen Menschen fast verdoppeln – wenn nicht entsprechende Maßnahmen getroffen würden, um eine solche Krise zu verhindern. David Beasly, der Generaldirektor des WFP, erwartet sogar, dass mehr Menschen an den Folgen der Hungerkrise als an dem Corona-Virus selbst sterben werden. Die Zahl der Kleinkinder, die unter Mangelernährung, also einer lebensbedrohlichen Form von Unterernährung leiden, könnte um mindestens 20 Prozent auf rund zehn Millionen ansteigen. Kinder sind vielerorts besonders betroffen. Schulschließungen führen dazu, dass Schulspeisungen ausfallen. Ein ernstes Problem, denn für viele Kinder sind sie die einzige sichere Mahlzeit am Tag. Weltweit befanden sich zweitweise 370 Millionen Kinder in einer ähnlichen Situation. Das Internationale Wissenschaftskonsortium für Ernährungsfragen (IPES-Food) geht davon aus, dass selbst bei erfolgreichen Eindämmungsmaßnahmen von COVID-19 etwa 14 bis 22 Millionen Menschen weltweit von extremer Armut betroffen sein werden. Brechen Einkommen weg, wirkt sich das direkt auf die Ernährungssituation aus. In Kenia etwa war der Anteil der Arbeitslosen im Juni auf mehr als 60 Prozent der Bevölkerung angestiegen.

Kein Einkommen bedeutet kein Essen

In mindestens 33 afrikanischen Ländern haben staatliche Maßnahmen Landwirt*innen daran gehindert, Lebensmittel zu den Märkten zu transportieren. Das geht besonders zu Lasten der marginalisierten Gruppen, die ihr Essen vor allem auf lokalen, oft informellen Märkten günstig kaufen. Die Ausgangssperren in vielen Ländern bedrohen auch die Lebensgrundlage von Straßenverkäufer*innen, die gerade in Städten eine zentrale Rolle im Ernährungssystem einnehmen. In Nigeria wurden im Jahr 2019 ein Viertel der Ausgaben für Lebensmittel in städtischen Gebieten für Außer-Haus-Essen getätigt. Vor allem ärmere Haushalte sind auf diesen Straßenverkauf angewiesen. Niedrige Einkommen zwingen sie dazu, sich täglich kleine Essensrationen zu kaufen und von der Hand in den Mund zu leben. Vorratskäufe sind undenkbar. Neben den hohen Preisen der Supermarktwaren fehlt ärmeren Menschen die Möglichkeit, Lebensmittel zu Hause adäquat zu lagern.

COVID-19 als globale Ernährungskrise

Doch anders als während der Welternährungskrise 2007/2008, die besonders zu Nahrungsmittelengpässen in Ländern des globalen Südens führte, betrifft die aktuelle Ernährungskrise auch die Länder des globalen Nordens. Unter anderem Grenzschließungen, Ausgangssperren und Produktionsstopps führten dazu, dass einige Lebensmittel nicht mehr oder nur knapp verfügbar sind – sodass Bäuerinnen und Bauern Überschüsse zum Beispiel an Milch verkommen lassen müssen. Existenzbedrohende Einkommensausfälle sind die Folge, die staatliche Subventionen und Hilfszahlungen notwendig machen. Der niederländische Agrarwissenschaftler Jan Douwe van der Ploeg zeigt in einer im Juli veröffentlichten Analyse die Gründe.¹ Viele Länder sind sowohl Importeure als auch Exporteure von Nahrungsmitteln. So hängt die westeuropäische Milch- und Fleischindustrie massiv von Futtermittelimporten aus Lateinamerika ab, die wiederum notwendig sind für eine Überproduktion an tierischen Produkten zu extrem günstigen Preisen für den Weltmarkt. Demnach sind Ernährungssysteme ein großes, kompliziertes Gefüge – gekennzeichnet von gegenseitigen Abhängigkeiten sowie wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten. Die COVID-19-Pandemie bringt dieses System drastisch ins Ungleichgewicht. Und das, obwohl für den Transport von Lebensmitteln vielerorts Sonderregelungen herrschen und Regierungen weltweit Prioritäten setzen, den formalen Lebensmittelhandel von Supermärkten aufrechtzuerhalten. Starken Einfluss hat auch die Wirtschafts- und Finanzkrise, die sich direkt auf den Warenverkehr auswirkt.

COVID-19 zeigt, wie krisenanfällig das industrielle Ernährungssystem ist

Die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zeigen wie krisenanfällig ein System ist, dessen Fokus auf der Produktion möglichst billiger Lebensmittel liegt, anstatt auf heimische Produktion von vielfältigen und gesunden Lebensmitteln in kurzen Wertschöpfungsketten zu setzen und angemessene Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse zu zahlen. Die Folgen der COVID-19-Pandemie führen also nicht zu einer Schieflage des weltweiten Ernährungssystems. Vielmehr offenbaren sie die bestehenden Schwachstellen und stellen eine zusätzliche Herausforderung dar – zu ohnehin bestehenden Krisen wie dem fortschreitenden Klimawandel und dem Rückgang an Biodiversität und steigenden Hungerzahlen als Folge eines landwirtschaftlichen Systems, das vielerorts auf der Ausbeutung von Mensch und Natur beruht.

„Weiter so“ ist keine Option

Doch trotz der dramatischen Auswirkungen liegt in der COVID-19-Pandemie auch eine Chance für eine tatsächliche Veränderung hin zu einer stärkeren lokalen Versorgung mit gesundem Essen. In Frankreich etwa stieg in Folge der Corona-Pandemie die Nachfrage nach lokal produzierten Lebensmitteln um ein Viertel an. Bäuerliche, agrarökologische Ernährungssysteme, die auf dem vielfältigen Anbau beruhen, stellen eine klare Alternative dar, wie sie die Zivilgesellschaft weltweit bereits seit vielen Jahren fordert. Landwirtschaftliche Familienbetriebe und Praktiken der Agrarökologie erweisen sich in dieser Krise als widerstandsfähiger. Mit diesen Systemen sind kleinbäuerliche Produzenten in der Lage, Nahrungsmittel mit lokalen Ressourcen zu produzieren. Durch die Mischung aus indigenem Wissen und wissenschaftlichen Erkenntnissen können traditionelle Nutzpflanzen gefördert werden, die widerstandsfähiger sind und auch mit minimalen externen Inputs wachsen können. Zudem erweist sich die Agrarökologie auch in Zeiten von Katastrophen als nachhaltiger, da die Bauern und Bäuerinnen in der Lage sind, ihr selbst gesammeltes und vermehrtes Saatgut untereinander weiterzugeben oder zu tauschen sowie Vielfalt auf dem Hof zu fördern – und nicht nur von einer Feldfrucht für den Markt abhängig zu sein. Dadurch minimiert sich das Risiko bei Markteinbrüchen. Bäuerliche Betriebe sind häufig weniger abhängig von Saisonarbeiter*innen. Direkte Vermarktung und Beziehungen zwischen Produzent*innen und Konsument*innen ermöglichen kurze Vermarktungswege und Unabhängigkeit von Supermarktketten.

Doch für die längst überfällige, grundlegende Transformation unseres Ernährungssystems hin zu einer krisenfesten, selbstbestimmten, sozial gerechten und ökologisch nachhaltigen Landwirtschaft und Ernährung ist dringend mehr politische und finanzielle Unterstützung notwendig. Bislang fließen Subventionen weltweit vor allem in großflächige landwirtschaftliche Produktion, orientiert an globalen Lieferketten und dem Austausch von landwirtschaftlichen Gütern. Erste positive Signale kommen aber aus der EU. Die im Juli veröffentlichte Landwirtschaftsstrategie „Farm to Fork“ betont die Notwendigkeit von nachhaltigen und resilienten Ernährungssystemen und beabsichtigt immerhin, Agrarökologie stärker zu fördern. Entscheidend wird künftig jedoch sein, wie ernst gemeint solche Bekenntnisse tatsächlich umgesetzt werden und wie ein Subventionssystem geschaffen werden kann, das die Arbeit von Bäuerinnen und Bauern sowie Landarbeiter*innen gleichermaßen unterstützt, eine ökologische und lokale Produktion von vielfältigen Lebensmitteln für die Versorgung vor Ort begünstigt und alternative Vermarktungskonzepte in den Blick nimmt. Ein „Weiter so“, das zeigt die Corona-Krise auf drastische Weise, stellt keine Option dar. Dafür ist ein politischer Wille notwendig.

Dieser Artikel ist zuerst im Rundbrief 3/2020 des Forum Umwelt und Entwicklung erschienen.

¹Van der Ploeg, Jan Douwe (2020): From biomedical to politico-economic crisis: the food systems in times of Covid-19. In: The Journal of Peasant Studies, 47:5, 944 – 972

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