Seit sich der venezolanische Oppositionsführer Juan Guaidó im Januar 2019 selbst zum Interimspräsidenten ernannt hat, unterliefen der rechten Opposition zahlreiche Fehler. Ihre Strategien, um einen zeitnahen Regierungswechsel zu erreichen, sind allesamt gescheitert. Vor allem ist es ihr nicht gelungen, trotz verbreiteter Unzufriedenheit in den Armenvierteln (barrios) Fuß zu fassen. Dafür gibt es Gründe.

Die Fakten sind erschreckend. Seit 2013 hat das venezolanische Bruttoinlandsprodukt etwa 60 Prozent seines Wertes verloren. Öffentliche Dienstleistungen wie Strom, Wasser, Gesundheit oder öffentlicher Nahverkehr stehen kurz vor dem Kollaps und die Hyperinflation hat sämtliche Ersparnisse und Löhne in der Landeswährung Bolívar entwertet. Der Mindestlohn beträgt nur noch wenige US-Dollar monatlich. Ohne die beinahe kostenlosen Lebensmittelkisten der Regierung und Rücküberweisungen migrierter Familienangehöriger könnten viele Venezolaner*innen zurzeit nicht überleben.

In den meisten Ländern der Welt würde solch eine – außerhalb von Kriegsgebieten äußerst ungewöhnliche – wirtschaftliche Krise selbstredend einen Regierungswechsel nach sich ziehen. Dass dies in Venezuela bisher nicht geschehen ist, führen die meisten Analyst*innen auf die Rolle des Militärs zurück. Dieses profitiere wirtschaftlich noch immer von der engen Bindung an die Regierung unter Präsident Nicolás Maduro, sei tief in kriminelle Geschäfte verstrickt und werde zudem vom kubanischen Geheimdienst kontrolliert.

Doch die Befürworter*innen eines regime change in Venezuela vernachlässigen konsequent zwei weitere entscheidende Faktoren: Dass es der rechten Opposition aufgrund eigener Fehler nicht gelingt, sich als Alternative für ganz Venezuela zu präsentieren. Und dass der Chavismus, der auf Maduros Vorgänger Hugo Chávez zurückgeht, als politisch-kulturelle Identität weit über die Regierung hinausgeht.

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Die Strategien der Opposition sind gescheitert

Seit sich der Parlamentsvorsitzende Juan Guaidó am 23. Januar 2019 unter kreativer Auslegung der Verfassung selbst zum Interimspräsidenten ernannt hat, begingen er und die rechte Opposition eine Reihe strategischer Fehler. Statt die größte Mobilisierung seit vielen Jahren zu nutzen, um die Regierung aus eigener Kraft heraus unter Druck zu setzen, übergab Guaidó das Heft des Handelns in die Hände der US-Regierung. Innerhalb Venezuelas ohne reale Macht, basiert seine Legitimität vor allem auf der internationalen Anerkennung.

Mittlerweile gelten die Hauptstrategien der Opposition allesamt als gescheitert. Weder gelang es Guaidó, das Militär auf seine Seite zu ziehen, noch kam es zu einem institutionellen und sozialen Zusammenbruch des Landes. Dass Teile der rechten Opposition offensiv für US-Sanktionen und eine US-Militärintervention eintreten, hat viele moderate Regierungskritiker*innen – auch ehemalige Chavist*innen – verprellt. Die Sanktionen haben teilweise sogar gegenteilige Effekte als die erhofften. Wie in anderen Ländern führen sie nicht automatisch zu einem regime change und treffen nicht einmal in erster Linie die Regierung. Vielmehr leidet darunter vor allem die ärmere Bevölkerung und gerät dadurch in noch engere Abhängigkeit von staatlichen Lebensmittellieferungen. Die Regierung wiederum kann von eigenen Fehlern ablenken, indem sie auf die Sanktionen verweist.

Spätestens seit dem dilettantischen Umsturzversuch Ende April sinkt Guaidós Stern auch in der internationalen Meinung. Damals hatte er seinen Mentor Leopoldo López aus dem Hausarrest befreit, sich mit einer Handvoll Soldaten auf der Straße postiert und die „Endphase“ im Machtkampf mit Maduro ausgerufen. Doch die erhoffte Militärrebellion blieb einmal mehr aus. Auch eine von der US-Regierung wiederholt angedrohte Invasion Venezuelas ist kurz vor dem Wahljahr in den USA ziemlich unwahrscheinlich. Im September tauchten dann Fotos auf, die Guaidó mit zwei Mitgliedern der paramilitärischen kolumbianischen Gruppe „Los Rastrojos“ zeigen, der zahlreiche Morde und Drogengeschäfte angelastet werden.

Und nach dem im September vorerst gescheiterten Dialog mit der Regierung unter Nicolás Maduro muss Guaidó auch noch zusehen, wie der kleine moderatere Flügel der Opposition eigene Verhandlungen mit der Regierung führt. Der von den vier großen Oppositionsparteien geforderte sofortige Abgang Maduros steht dort nicht auf der Agenda. Der Mehrheitsflügel um Guaidó jedoch hält bisher unvermindert an den gescheiterten Strategien fest. Mitte November versuchte der selbsternannte Interimspräsident erneut, landesweite Proteste auf die Straße zu bringen.

Kurz zuvor hatte in Bolivien die traditionelle, weiße Elite durch einen Putsch die Regierungszeit des ersten indigenen Präsidenten Evo Morales beendet. Dieser hätte zwar nach einem verlorenen Referendum laut Verfassung gar nicht nochmal antreten dürfen. Seine demokratisch legitimierte Amtszeit lief aber regulär noch bis Januar. Die rechte Opposition in Venezuela hoffte daraufhin auf regen Zulauf und forderte das Militär auf, wie in Bolivien einen Rücktritt des Präsidenten zu erzwingen. Doch die Mobilisierungen reichten nicht annähernd an die Stärke von Anfang 2019 heran. US-Vizepräsident Mike Pence rief das venezolanische Militär einmal mehr zum Putsch auf, stieß aber erneut auf kein Gehör. Alles in Allem wirkt die Opposition planlos und ohne realistische Aussicht auf eine zeitnahe Regierungsübernahme.

Wie plump die Strateg*innen der venezolanischen Opposition agieren, lässt sich auch an deren Positionierung gegenüber den antineoliberalen Protesten in Ecuador und Chile ablesen. So bezichtigten Guaidó und andere rechte Politiker*innen Maduro, dahinter zu stecken. Dass Menschen sich in anderen Ländern aus eigenem Antrieb gegen ebenjene Politik wenden, die die Opposition in Venezuela selbst propagiert, sprengt den geistigen Horizont vieler Regierungsgegner*innen.

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Die tieferen Gründe für den Rückhalt des Chavismus

Dabei sorgen die fortlaufende Verschlechterung der Lebensbedingungen und eine ausufernde Polizeigewalt in den Armenvierteln mittlerweile auch in chavistischen Hochburgen für Unmut und vereinzelte Proteste gegen die Regierung. Doch noch größer als die Enttäuschung über den Verlauf, den der einst von Chávez angeführte bolivarianische Prozess genommen hat, ist dort die Ablehnung der US-Einmischung und der rechten Opposition. Präsident Nicolás Maduro kann noch immer auf eine loyale Anhängerschaft von schätzungsweise 15 bis 30 Prozent der Bevölkerung setzen. Darüber hinaus gibt es einen Teil, der sich als chavistisch versteht, ohne aber offen die Regierung zu unterstützen. Würde diese chavistische Basis von den Hügeln hinabsteigen, um den Rücktritt Maduros zu fordern, wäre der venezolanische Präsident wohl rasch am Ende.

Nüchtern betrachtet mag es nicht nachvollziehbar sein, warum es gerade in jenen Bevölkerungsteilen, die am stärksten unter der Wirtschaftskrise leiden, immer noch Rückhalt für die Regierung gibt. Wenn dies überhaupt jemand thematisiert, dann wird meist versucht, dies mit Klientelismus, sozialem Druck oder der Angst vor Repression zu erklären. Dies alles gibt es zwar durchaus. Doch wer ernsthaft denkt, mehrere Millionen Venezolaner*innen aus den barrios – den informell erbauten Armenvierteln Venezuelas – ließen sich derart einfach vereinnahmen, ist mit diesen wohl noch nie ernsthaft in Kontakt gekommen.

Das Bewusstsein darüber, dass Hugo Chávez der erste Politiker überhaupt war, der ihre Sorgen ernst genommen hat, ist bei vielen Menschen tief verwurzelt. Die Figur Chávez eröffnete ihnen zumindest vorübergehend den Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung, subventionierten Lebensmitteln, Elektrogeräten und politischen Teilhabemöglichkeiten. Durch den Chavismus ist ein Teil der Bevölkerung an die Macht gekommen, der in der Politik zuvor nie eine wichtige Rolle gespielt hat. Auch speist sich das Militär überwiegend aus der Unterschicht, und in den Ministerien sind nicht mehr nur Weiße, sondern auch Mestizen, Afrovenezolaner*innen und Indigene präsent. Diese sprechen häufig die Sprache der barrios, die von der weißen Oberschicht als unkultiviert und rau abgelehnt wird. Das sorgt einerseits für direkte Kontakte zwischen Politiker*innen und Barrio-Bewohner*innen und andererseits für eine große emotionale Bindung an das einst von Hugo Chávez ins Leben gerufene bolivarianische Projekt. Es erzeugt ein Gefühl von Würde und Selbstermächtigung, das die meisten Bewohner*innen der barrios nie zuvor empfunden hatten.

Die Politiker*innen der rechten Opposition, die – abgesehen von wenigen Ausnahmen wie Guaidó selbst – überwiegend der kleinen, weißen Oberschicht des Landes entstammen, werden dies wohl niemals verstehen können. Die rechte Opposition tut meist so, als sei die Mittel- und Oberschicht die gesamte Bevölkerung. Stets bezieht sie sich positiv auf die Zeit vor Chávez, die sogenannte Vierte Republik. Heute ist die soziale und wirtschaftliche Situation zwar in vielerlei Hinsicht schlechter. Aber auch damals wurden viele Millionen US-Dollar veruntreut, litten Menschen in den barrios an Hunger und unter Repression. Daher wünscht sich der ärmere Teil der Bevölkerung nicht dorthin zurück. In den barrios wissen die meisten Menschen, dass die rechte Opposition auf sie herabschaut, weil sie eine dunklere Haut haben und sich nicht so gewählt ausdrücken. Daher geht die ärmere Bevölkerung nicht mit Guaidó zusammen auf die Straße.

So wenig wie Maduro einfach weitermachen und die Krise aussitzen kann, würde die Opposition nach einem US-gestützten Umsturz ohne Repression gegen den chavistischen Teil der Bevölkerung regieren können. Da sich ohne Gewalt keine der beiden Seiten vollends durchsetzen wird, kann aus der Krise daher nur ein breiter gesellschaftlicher Dialog führen. Doch sowohl innerhalb als auch außerhalb Venezuelas arbeiten bisher nur Wenige darauf hin.

Tobias Lambert ist Redakteur des Südlink. Er war zuletzt im Oktober in Venezuela.

Tobias Lambert ist Redakteur des Südlink. Er war zuletzt im Oktober in Venezuela.

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