Das Mittelmeer hat schon bessere Zeiten erlebt. Auch wenn immer wieder verschiedene Mächte um die Vorherrschaft und Einflusssphären kämpften, war es über die Jahrhunderte hinweg stets auch ein Ort der Begegnung, des Austauschs und der kulturellen Bereicherung. Heute wird – vor allem in Europa – das Trennende betont. Insbesondere die Ablehnung des Islam eint all jene, die Vorurteile schüren und auf Abschottung setzen.

Sie schuf, wohl ohne es bedacht zu haben, ein semantisches Sinnbild. „#SicherInKöln: Am HBF werden derzeit mehrere Hundert Nafris überprüft“ twitterte die Polizei am 31. Dezember 2016. Es war ein Jahr nach jener berüchtigt gewordenen Silvesternacht voller sexueller Übergriffe auf der Kölner Domplatte. Nun, ein Jahr später, waren alle Augen auf diesen Ort gerichtet, wartend, ob sich die Vorfälle wiederholen würden.

Die Abkürzung „Nafri“ für „Nordafrikaner“ hatte die Polizei intern schon länger verwendet. Dass sie ihn in jener Silvesternacht 2016 ganz ungeniert für die öffentliche Kommunikation nutzte, ließ eine latente Überzeugung der Mehrheitsgesellschaft an die Oberfläche treten: Dass das Mittelmeer auch eine Barriere der europäischen Zivilisation – und dass dahinter nicht eine andere, sondern keine Zivilisation zuhause ist.

Viele waren der Meinung, die sexualisierte Gewalt in jener Silvesternacht hätte der „Willkommenskultur“ ein Ende bereitet, hätte die durch die Begeisterung der Deutschen für die eigene Hilfsbereitschaft vorübergehend überdeckten Ressentiments gegen Muslime wieder durchschlagen lassen. Wie dicht unter der Oberfläche diese Ressentiments liegen, zeigte sich in der Schrillheit, mit der unter anderem die rechtspopulistische AfD versuchte, sie abzurufen und politisch auszubeuten: Von „barbarischen, muslimischen, gruppenvergewaltigenden Männerhorden“ sprach die damalige EU- und heutige Bundestagsabgeordnete Beatrix von Storch mit Blick auf Köln.

 

Der rechte FAZ-Blogger Don Alphonso ließ sich nach dem „Nafri“-Tweet nicht lange Bitten und verfasste einen Brief an den ideellen Gesamt-Maghrebiner, den „jungen Mann aus Nordafrika“: „Warum geht von Dir und Deinen Freunden ‚Grundaggressivität‘ aus?“, wollte er wissen. „Mein Eindruck ist, dass wir inzwischen so eine Art temporären Belagerungszustand von innen haben“, mit diesen Worten schloss er seinen Brief. Denn darum geht es letztlich, das zeigt sich in immer neuen Variationen des aktuellen, rechten Denkgepräges: Die Angst vor einer kulturellen Invasion aus dem arabischen Raum, die an die Stelle der Angst vor den Russen getreten ist.

In seinem Roman „Verlassen“ beschreibt der marokkanische Autor Tahar Ben Jelloun „die gleichzeitige absolute Nähe und totale Ferne Europas zu Nordafrika, sowohl geographisch als auch im kollektiven Gedächtnis“. In einer Szene träumt Azel, so der Name des Protagonisten, von seinem eigenen nackten Körper zwischen anderen vom Meerwasser aufgeschwemmten Körpern. Sein Gesicht ist vom Salz entstellt, die Haut von der Sonne verbrannt, an den Armen aufgerissen, als habe vor dem Kentern eine Schlägerei stattgefunden.

Und obwohl sich der qualvolle Tod auf dem Meer, der all jenen droht, die die Überfahrt nach Europa wagen, in seine Träume eingebrannt hat, lässt er von seinem Plan nicht ab. Seine Freunde sagen ihm nach, Affären mit westlichen Ausländerinnen einzugehen, damit diese ihn aus Marokko mitnehmen. Über seinen Traum sprechen kann Azel nicht, weder mit seiner Schwester noch mit seiner Mutter, zu sehr ist er schambehaftet, schuldbeladen, Verrat am gemeinsamen Leben und an der gemeinsamen Identität. So imaginiert Azel schließlich einen überirdischen Helfer, der einen nach dem anderen hinüberführen muss „über die Distanz, die sie vom Leben, dem prallen Leben, oder eben vom Tod trennt“, schreibt Ben Jelloun.

Große Nähe und radikale Distanz
Der Schlepper als überirdisches Wesen, der „Nafri“ als eindringender Barbar: Große Nähe und doch radikale Distanz – so ambivalent zeigt sich heute das Verhältnis der Regionen zu beiden Seiten des Mittelmeers. Historisch changiert es seit jeher zwischen diesen Polen. In seiner großartigen Biografie des Mittelmeers zeichnet der britische Historiker David Abulafia dieses Schillern von Nähe und Ferne nach.

Heute wird das Mittelmeer von Rechten als Grenze, als Puffer zum Islam imaginiert, verkennend, wie sehr Muslime längst Teil europäischer Gesellschaften sind. Lange hatte der Islam auch als Herrschaftsformation das Mittelmeer überquert. Ab dem 8. Jahrhundert hatte sich die muslimische Vormacht auf Marokko, Spanien („al-Andalus“) und später auch Sizilien ausgedehnt. Die südliche Hälfte des Mittelmeeres wurde zu einem muslimisch beherrschten Meer, was den Handel erblühen ließ.

Rund 600 Jahre hielt dieser Zustand an. Erst 1492, in dem Jahr, das auch den Beginn der Kolonisierung Amerikas markiert, eroberte das christliche Kastilien in der Reconquista die iberische Halbinsel zurück. Die muslimischen Morisken wurden zum Christentum zwangsbekehrt oder deportiert – an den Ort, der ihnen als Heimat von den Spaniern zugeschrieben wurde, aber keine war: Die Bewohner*innen der nordafrikanischen Küsten lehnten die Morisken ab.

Denn nach Jahrzehnten christlicher Kampagnen gegen „maurische Praktiken“, schreibt Abulafia, hatten viele Morisken sich in Sprache, Kleidung und Sitten hispanisiert, viele trugen sogar spanische Namen. Sie brachten sogar amerikanische Früchte wie die Kaktusfeige nach Nordafrika. „Wenn sie nach Menschen suchten, die sie verstanden, wandten sie sich gelegentlich eher an die sephardischen Juden, die mit ihnen die nostalgische Erinnerung an das Spanien der drei Religionen teilten.“ Zwischen Juden und andalusischen Muslimen im nordafrikanischen Exil sei so „ein Gefühl der Verwandtschaft“ entstanden, schreibt Abulafia.

Sein „integratives“ Wesen habe das Mittelmeer nur in den, „historisch betrachtet seltenen Phasen des Ausschlusses, bedingt durch politische und ökonomische Spannungen“ verloren. Heute, so schreibt Abulafia, sei wohl so eine Phase. Das Mittelmeer unserer Tage sieht er als „zerrissen, zerstückelt und zerbrochen“ an.

Das zeigt sich auch daran, wie sehr die Vorstellung eines mittelalterlichen Kulturkampfs entlang des Mittelmeers heute wieder bemüht wird. Rechtsextreme Hacker und Blogger führen unter dem Label „Reconquista Germanica“ gleichsam militärisch organisierte Attacken im Netz. Und einer der Wortführer der nationalistischen Rechten, der Thüringer AfD-Vorsitzende Björn Höcke, führte kürzlich aus, wie er sich die politische Zukunft vorstellt: „Wir werden die Macht bekommen – und dann werden wir durchsetzen, was notwendig ist, damit wir auch in Zukunft noch unser freies Leben leben können“, kündigte er bei einem Auftritt im Januar 2018 in Eisleben ab. „Dann werden wir nämlich die Direktive ausgeben, dass am Bosporus mit den drei großen M – Mohammed, Muezzin und Minarett – Schluss ist.“

Das Mittelmeer als imaginierte Demarkationslinie der Kulturen stand auch in jüngerer Vergangenheit in scharfem Gegensatz zur Realität. In Melilla und Ceuta, den spanischen Exklaven in Marokko, grenzen die EU und Afrika aneinander. Lange gab es dort nur einen Grenzstein. Marokkaner*innen und andere Afrikaner*innen überquerten die Grenze, um zu arbeiten. Auch für Algerier war der Weg in die Ex-Kolonialmacht Frankreich lange nicht allzu beschwerlich und aus Tunesien fuhr die Mittelschicht noch in den 1980er Jahren gern einmal am Wochenende mit der Fähre nach Palermo, um einen draufzumachen.

Grundlegend anders wurde die Lage ab dem Mai 1991: Da trat in Spanien das Schengener Abkommen in Kraft. Das Land gehörte fortan zu einem neuen Raum der Freizügigkeit: Europa. Und das verpflichtete es, seine Grenzen als die der neuen Schengen-Gemeinschaft zu schützen.

Das Ende einer uralten Migrationsroute
Spanien stand unter Zugzwang. Mit der innereuropäischen Freiheit war auch die Skepsis gewachsen. Ganz geheuer war vielen, vor allem in Deutschland, der Gedanke nicht, einen so wichtigen Teil der Souveränität ausgerechnet an Staaten abzugeben, denen man auch sonst nicht viel zutraute. 1991 entschied Spaniens sozialdemokratische Regierung, dass Marokkaner nun ein Visum brauchen. Die uralte Migrationsroute aus dem Maghreb-Raum nach Andalusien war unterbrochen. Die Freizügigkeit der Araber wurde gegen die der Europäer getauscht.

Heute sind die Zäune um Ceuta und Melilla sechs Meter hoch, bewehrt mit Klingendraht, umgeben von einer Drahtseilkonstruktion, in der sich Arme und Beine verfangen. Tausende haben sich hier schwer verletzt, Dutzende starben. Die Exklaven wurden ein „Extremfall einer Gated Community“, schreibt der spanische Politologe Jaume Castan Pinos. Ebenso wie Spanien wurden in den folgenden Jahren auch die Regime von Libyen, Tunesien und Algerien mit Geld und diplomatischem Druck dazu gebracht, den Zugang zum Mittelmeer zu schließen – für die, die durch die Sahara kamen, aber auch für die eigenen Bürger*innen.

Die nordafrikanischen Diktaturen aber waren für Europa nicht nur bei der Abwehr von Migrant*innen von zentraler Bedeutung. Ab 2001 gelobten sie Kooperation im „Krieg gegen den Terror“ und hielten islamistische Gruppen – wenngleich vor allem aus Eigeninteresse – teils gewaltsam klein. Sie erwiesen sich als verlässliche Bündnispartner bei der Etablierung neoliberaler Wirtschaftsbeziehungen – und sicherten Europa einen ungehinderten Zugriff auf die Erdölreserven der Region. Demokratie und Menschenrechte spielten keine Rolle. Das ging nicht lange gut.

Aufbruch im Arabischen Frühling
Der Arabische Frühling 2011 schrieb das Verhältnis von Maghreb und Europa zur Neubestimmung aus. „Mit dem Sturz von Ben Ali befreite sich nicht nur eine ganze Gesellschaft, sondern hörte auch die europäische Grenze im Mittelmeer für einen Moment auf zu existieren“, schrieb eine Gruppe von Publizisten um den italienischen Wissenschaftler Paolo Cutitta 2011. Was danach kam, war offen.

Die Dynamik des arabischen Frühlings strahlte bis nach Europa aus: Die Bilder vom Tahrir-Platz wurden zum Vorbild der basisdemokratischen Anti-Austeritäts-Bewegungen in Spanien und Griechenland. In Tunesien richtete sich der Protest gegen Armut und Diktatur, in Europa fühlten sich Menschen von den Regierungen nicht repräsentiert, die den Sparkurs der Troika aus IWF, EZB und Europäischer Kommission umsetzten. In der Kultur des Widerstands waren die Gesellschaften zu beiden Seiten des Mittelmeers sich plötzlich ganz nah.

Ein neuer regionaler Status Quo wurde gesucht. Die EU fragte nach der eigenen Verantwortung für die Langlebigkeit der kleptokratischen und autoritären Herrschaftscliquen, die im Arabischen Frühling fielen oder zumindest ins Wanken gerieten. Der EU-Kommissar für Erweiterung und europäische Nachbarschaftspolitik, Stefan Fuele, merkte im Februar 2011 an: „Die Massen in den Straßen von Tunis, Kairo und anderswo haben im Geiste unserer gemeinsamen Werte gekämpft. Mit ihnen müssen wir heute zusammenarbeiten und nicht mit Diktatoren, die unter der Missachtung von Menschenleben das Blut ihrer eigenen Leute vergießen.“

Folgen hatte diese Selbsterkenntnis keine. Direkt nach der friedlichen Revolution meldete sich der IWF und bot der tunesischen Regierung Kredite, wenn diese im Gegenzug dafür sorgen würde, dass die nun freien Gewerkschaften keine allzu hohen Lohnsteigerungen durchsetzen – vor allem Europa fürchtete um Tunesien als politisch stabile und äußerst kostengünstige „verlängerte Werkbank“.

Die alten Feindbilder von Massenmigration und Islamismus wurden beschworen und prägen die Nachbarschaftspolitik, bis heute. Roberto Maroni, Italiens Innenminister unter Silvio Berlusconi, sprach angesichts der Tunesien-Flüchtlinge von der Gefahr eines „Exodus biblischen Ausmaßes“. Sein deutscher Amtskollege, der damalige Außenminister Guido Westerwelle (FDP) appellierte: „Die Menschen sollen in ihrer Heimat bleiben, den demokratischen Wandel unterstützen und sich am wirtschaftlichen Aufbau beteiligen.“

Die einen werden abgeschoben, die anderen werden angeworben
Solche Ratschläge kommen immer dann auf den Tisch, wenn es um Migrant*innen geht, von denen man sich keinen Vorteil verspricht. Bei den anderen hingegen greifen die von Deutschland geführten Positivlisten mit Mangelberufen. Tunesien wurde in den letzten Jahren zu einem der Hauptrekrutierungsländer für Fachkräfte. Die Regierungen schlossen einen „Mobilitätspakt“, Menschen, deren Qualifikation gebraucht wird, werden mit Slogans wie „Make it in Germany“ in Tunesien heute aktiv angeworben. Die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit berät in dem Land tunesische Fachkräfte über „Leben und Arbeiten in Deutschland“, bietet Sprachkurse und Praktika an für hochqualifizierte Fachkräfte aus Tunesien, vor allem aus dem Pflegebereich.

In der öffentlichen Diskussion hat dies keinen Platz. Hier wird vor allem über das Abschieben gesprochen. Die Maghreb-Staaten sollen seit Jahren auf die Liste der „sicheren Herkunftsländer“ kommen, was bislang noch an der Blockade der Grünen scheitert. Nützliche „Nafris“ dürfen kommen, die Übrigen können froh sein, wenn ihre Rückkehr mit einer Startprämie „gefördert“ wird.

Wie zwanghaft die Diskussion um die Einstufung der Maghreb-Staaten als sichere Herkunftsländer geführt wurde, zeigt, was das Verhältnis der Regionen nördlich und südlich des Mittelmeers heute prägt.

Der Sommer der Migration 2015 und die Unfähigkeit der EU, die Migration von außen im Innern kollektiv zu regeln, schlug in den letzten Jahren um in eine autoritäre Formierung. Das Mittelmeer spielt hier eine entscheidende Rolle. Das Versprechen der Rechtspopulisten lautet, diese offene Flanke Europas ein für alle Mal zu versiegeln – egal, wie viele Tote das nach sich zieht. Um für diese Agenda gewählt zu werden, beschwören sie mit Worten wie „Messermigration“ das Feindbild des Islam auf der anderen Seite des Meeres als Quell von Kriminalität, Gewalt und kultureller Eroberung.

Die politische Mitte lässt sich von dieser Agenda treiben, setzt aber gleichzeitig auf die ökonomische Kooperation. Zu besichtigen war dies Ende Oktober 2018, als Angela Merkel zum bislang größten Treffen afrikanischer Staatschefs in Berlin eingeladen hatte. Das sollte auch dazu dienen, die deutsche Investitionsfreude in Afrika zu befeuern.

Es ist die Fortsetzung zweier Initiativen, die Merkel während ihrer G20-Präsidentschaft im vergangenen Jahr startete: Dem Compact mit Afrika und den Reformpartnerschaften: Die Staaten bekommen günstige Kredite oder finanzielle Hilfen, wenn sie zeigen, dass sie Maßnahmen ergreifen im Kampf gegen Korruption, für mehr Menschenrechte und Stabilität im Wirtschafts- und Finanzsektor. Unter den auserwählten „Reformchampions“ ist Tunesien, Marokko soll bald hinzukommen.

Wegen der katastrophalen Menschenrechtslage scheidet Ägypten als Reformpartner aus. Präsident al-Sisi war dennoch auf der Konferenz zu Gast. Er präsentierte ein Siemens-Kraftwerk als Leuchtturmprojekt der deutschen Wirtschaft. Bei einer Pressekonferenz lobte Merkel den General aber noch aus einem anderen Grund: „Ägypten sichert Seegrenzen exzellent, de facto gibt es keine Migration aus Ägypten nach Europa, obwohl in Ägypten viele Flüchtlinge leben. Das ist hohe Anerkennung wert und so unterstützen wir Ägypten mit einem ungebundenen Kredit von 500 Millionen Euro.“

Offene Märkte, geschlossene Grenzen: Das ist Europas Vision für das Verhältnis zum Maghreb.

Zum Autor

Christian Jakob ist Reporter der tageszeitung und bereist regelmäßig die Länder rund ums Mittelmeer.

Christian Jakob ist Reporter der tageszeitung und bereist regelmäßig die Länder rund ums Mittelmeer.

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