Südlink-Magazin

Das Recht des Stärkeren

In Guatemala und El Salvador benutzen die Eliten die Justiz, um ihre politischen Ziele durchzusetzen

von Sonia Rubio Padilla
Veröffentlicht 11. DEZEMBER 2023

Nach den Friedensschlüssen in den 1990er Jahren etablierten sich in Guatemala und El Salvador demokratische Regierungsformen mit Gewaltenteilung. Heute agiert die Justiz in beiden Ländern jedoch nicht mehr unabhängig. Vielmehr stützt sie die Mächtigen.

In den 1990er Jahren ritten Guatemala und El Salvador auf der Welle der Demokratisierung. Die beiden zentralamerikanischen Länder setzten darauf, den Rechtsstaat zu konsolidieren, Checks and Balances zu stärken sowie freie und faire Wahlen als Mechanismus für den Zugang zu Macht einzuführen. Die autoritäre Vergangenheit sollte der Vergangenheit angehören. Die bewaffneten Konflikte zuvor hatten mit Zehntausenden ermordeter, gefolterter und verschwundengelassener Personen einen hohen menschlichen Preis gefordert und schwere Verstöße gegen die Menschenrechte mit sich gebracht.

Wichtige Reformen im Friedensprozess waren unzureichend

Verhandlungen mündeten 1992 in El Salvador und 1996 in Guatemala in Friedensabkommen. Den eingeschlagenen Weg beizubehalten, war jedoch nicht einfach, denn die wichtigen institutionellen Reformen waren unzureichend. Autoritäre Enklaven blieben bestehen und verhindern heute – mit neuen Waffen –, dass die demokratischen Institutionen angemessen funktionieren.

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Machtmissbrauch mit den Mitteln des Rechts ist weltweit auf dem Vormarsch. Doch immer mehr NGOs, soziale Bewegungen und Aktivist*innen nutzen das Recht, um sich in vielen Bereichen für Verbesserungen einzusetzen. …

In beiden Ländern zielten die Demokratisierungsdynamik und die Institutionalisierung eines Rechtsstaates darauf ab, das Machtgleichgewicht neu zu justieren: Während die Einmischung des Militärs in das politische Leben gesetzlich begrenzt wurde, stärkte die institutionelle Neugestaltung die Rolle der Justiz. Das demokratische Argument dahinter lautet, dass institutionelle Kontrollmechanismen Machtmissbrauch verhindern und diesen gegebenenfalls bestrafen und beheben sollen. Auf diese Weise erlangte die Justiz die gleiche Bedeutung wie die beiden anderen Staatsgewalten.

Da die Verfassungen den Menschenrechtsschutz und die Kontrollfunktionen stärkten, übernahmen die Gerichte und andere Justizinstitutionen – mehr oder weniger – wichtige Funktionen, die sich unmittelbar auf die politische Sphäre auswirken Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz sollten als Grundprinzipien ein gesundes demokratisches System gewährleisten.

Die Justiz wurde vereinnahmt

Die Entwicklung in Guatemala und Salvador zeigt jedoch, dass die Bedeutung der Justiz den politischen Eliten nicht verborgen blieb. Sie brachten sie unter ihre Kontrolle und machten sie zu einem Instrument, um ihre Macht zu erhalten und

zu festigen. Wenn es einen internationalen Konsens über diese beiden Länder gibt, dann den, dass sie von einem neuen Autoritarismus belagert werden, der versucht, seine Ziele mithilfe von Gerichtsurteilen zu erreichen.

Die Eliten haben also ihre Strategie verfeinert: Anstelle der Militärputsche der Vergangenheit offenbart sich die aktuelle Bedrohung in einer ausgeklügelten, schrittweisen Schwächung des Justizsystems. Diese Strategie ermöglicht den Missbrauch der Justiz und der Strafgewalt des Staates, um abweichende Meinungen zu kriminalisieren, politische Freiheiten einzuschränken und den Machterhalt zu sichern. Die Justizsysteme sind zu zentralen Akteuren des autoritären Wandels geworden und haben somit die Rolle übernommen, die zuvor das Militär in der Region gespielt hat.

Der dringlichste Fall ist Guatemala, wo die internationale Verurteilung überwältigend ist, weil die politische Vereinnahmung des Justizsystems die demokratischen Institutionen untergräbt und eine schwere Menschenrechtskrise verursacht hat. Dies geht soweit, dass die Generalstaatsanwaltschaft unter Consuelo Porras und der Leiter der Sonderstaatsanwaltschaft gegen Straflosigkeit, Rafael Curruchiche, die Ergebnisse der jüngsten Präsidentschaftswahl diskreditieren, die zuvor vom Obersten Wahlgericht als rechtmäßig bestätigt wurden.

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Bernardo Arévalo und seine Vizekandidatin Karin Herrera von der Semilla-Partei hatten die Wahlen im zweiten Wahlgang im August gewonnen, die Amtsübergabe findet allerdings erst am 14. Januar statt. Die Verfolgung und Kriminalisierung der Wahlbehörden und der Gewählten sind nicht die einzigen Fälle des Machtmissbrauchs im Justizapparat. Seit Jahren manipulieren autoritäre Kräfte über die Staatsanwaltschaft und unter Mitwirkung nationaler Gerichte das Strafrecht und verfolgen (ehemalige) Justizbeamt*innen und Staatsanwält*innen, Journalist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen, die sich gegen Korruption und Straflosigkeit eingesetzt haben.

Dieser Missbrauch führte zu mehreren Haftbefehlen und willkürlichen Inhaftierungen. Einer der berüchtigtsten Fälle betrifft die ehemalige Staatsanwältin Virginia Laparra, die wegen ihres Vorgehens gegen die Korruption verhaftet und in einem unrechtmäßigen Verfahren zu vier Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Ein weiterer Fall ist die Verurteilung des Journalisten José Rubén Zamora, Gründer und Präsident der unabhängigen Tageszeitung el Periódico in einem Gerichtsverfahren, das von Menschenrechtsverletzungen geprägt war.

Fast einhundert Menschen kamen in den letzten Jahren durch die korrupte Justiz in Haft oder mussten aus Sicherheitsgründen ins Ausland fliehen. Es überrascht daher nicht, dass Guatemala wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen und Angriffen auf die Demokratie auf der „schwarzen Liste“ der interamerikanischen Menschenrechtskommission steht und mit schweren internationalen Sanktionen belegt ist.

In El Salvador gibt es keine unabhängigen Instanzen mehr

Auch in El Salvador besteht eine bewusste Strategie der Machtkonzentration, die die Justiz zur Verfolgung politischer und privater Ziele instrumentalisiert und so die Rechtsstaatlichkeit untergräbt. Am 1. Mai 2021 tauschte das neu gewählte Parlament, in dem das Lager von Präsident Nayib Bukele über eine Zweidrittelmehrheit verfügt, noch in seiner konstituierenden Sitzung rechtswidrig die Richter*innen der Verfassungskammer des Obersten Gerichts sowie den Generalstaatsanwalt Raúl Melara gegen regierungsnahe Ersatzmitglieder aus. Im September 2021 wurden fast ein Drittel der Richter*innen und Staatsanwält*innen des Landes entlassen und die frei gewordenen Stellen ohne Einhaltung des gesetzlich festgelegten Besetzungsverfahrens neu besetzt.

Die Situation ist so ernst, dass es in El Salvador derzeit keine unabhängigen Instanzen gibt, die die Auswüchse der Exekutive stoppen oder die Menschenrechte schützen, insbesondere unter dem seit März 2022 geltenden Ausnahmezustand. Dieser wurde als Reaktion auf die Ganggewalt sogenannter Jugendbanden (maras) verhängt und setzt wichtige Menschenrechte außer Kraft. Der Ausnahmezustand führte bislang zu mehr als 73.000 Festnahmen, von denen viele als willkürlich angesehen werden. Es ist unklar, wie viele der Festgenommen wirklich maras angehören oder ein Delikt begangen haben. Diese „Politik der öffentlichen Sicherheit“ geht mit schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen wie gewaltsamem Verschwindenlassen, Folter und außergerichtlichen Hinrichtungen einher. Bisher geht die Justiz dem nicht ordnungsgemäß nach.

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Auch kommt es zu Straf- und Kriminalisierungsdrohungen gegen juristische Akteur*innen, Verteidiger*innen und Journalist*innen, die öffentlich die Unabhängigkeit der Justiz verteidigt oder den Machtmissbrauch der Regierung angeprangert haben. Diese Manipulation der Institutionen ist zu einem Instrument des Machterhalts geworden. Exemplarisch dafür steht der Beschluss des Obersten Gerichts, der entgegen klarer verfassungsrechtlicher Verbote die unmittelbare Wiederwahl des Präsidenten für rechtmäßig erklärt hat. Nur aufgrund dieser fragwürdigen Gerichtsentscheidung kann Präsident Bukele bei der kommenden Präsidentschaftswahl im Februar 2024 erneut als Kandidat antreten.

 

In Guatemala und El Salvador ist die Demokratie in Gefahr

Die demokratischen Systeme, die nach der Befriedung der guatemaltekischen und salvadorianischen Gesellschaft etabliert wurden, befinden sich in einer schweren Krise. Die Überreste früherer autoritärer Regime sind weiterhin aktiv und nutzen nicht mehr ausschließlich militärischen Zwang, um ihre Ziele zu erreichen, sondern die bewusste Schwächung der Justizbehörden, um sie als raffiniertere Waffe zur Konsolidierung der eigenen Macht einzusetzen. Es ist unsicher, ob die Demokratie in den beiden Ländern angesichts des Verlusts der Unabhängigkeit der Justizinstitutionen überleben kann. Denn statt sie zu schützen, sind die Mächtigen dabei sie zu behindern, um ihre politischen oder partikularen Interessen zu wahren.

 

Aus dem Spanischen von Tobias Lambert.

 

Sonia Rubio Padilla ist Anwältin und Politikwissenschaftlerin aus El Salvador. Sie ist auf internationale Menschenrechte spezialisiert und arbeitet bei der Due Process of Law Foundation.

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