Südlink-Magazin

Globale Arbeitskämpfe

Wie Gewerkschaften im Globalen Süden das deutsche Lieferkettengesetz für ihre Arbeit nutzen können. Das Beispiel der pakistanischen Textilindustrie.

von Annabell Brüggemann
Veröffentlicht 1. MÄRZ 2024

Ein Jahr nach dem Inkrafttreten des deutschen Lieferkettengesetzes zeigen erste Erfahrungen in Pakistan, wie Arbeiter*innen und Gewerkschaften das Gesetz nutzen können, um ihre Position gegenüber transnationalen Unternehmen und lokalen Arbeitgebern zu stärken. Aber klar ist auch: Kein Gesetz kann die Organisierung von Arbeiter*innen und den Aufbau gewerkschaftlicher Bewegungen und transnationaler Kampagnen ersetzen.

Seit dem 19. Jahrhundert erkämpfen Arbeiter*innen Verbesserungen ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen durch Selbstorganisation, kollektive Kämpfe, Streiks, Proteste, Kampagnen und direkte Aktionen. Auch die Arbeiter*innen in der globalen Textilindustrie, etwa in Bangladesch und Pakistan, tun heute trotz massiver Repression genau dies: Sie protestieren, marschieren, formulieren Forderungen und kämpfen für Reformen. So haben die Arbeiter*innen in Pakistan nach dem katastrophalen Fabrikbrand bei Ali Enterprises im Jahr 2012, bei dem infolge fehlender Notausgänge, vergitterter Fenster und defekter Feuerlöscher 260 Menschen starben, wichtige arbeitsrechtliche Errungenschaften wie das Sindh-Gesetz über Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz von 2017 erzielt. In den letzten Jahren haben sie wiederholt – zuletzt mit Wirkung zum Juli 2023 – maßgebliche Erhöhungen des örtlichen Mindestlohns erkämpft.

Doch es herrscht eine riesige Implementierungslücke. Multinationale Unternehmen stehen unter Druck, ihren Aktionären möglichst hohe Gewinne auszuschütten und dafür ihre Produktionskosten zu senken. Dies führt oftmals zur strategischen Auswahl von Produktionsstandorten mit billigen Arbeitskräften und laxer Rechtsdurchsetzung. Damit bestehen für Produktionsländer wie Pakistan, die an der globalen Wirtschaft teilnehmen und ausländische Investitionen anziehen wollen, wenig Anreize, örtliche und internationale Regelungen zum Schutz von Arbeiter*innen auch tatsächlich um- und durchzusetzen. Das bedeutet wiederum, dass zwei Akteure, die bei der Festlegung der Arbeitsbedingungen in den meisten Produktionsländern eine zentrale Rolle spielen – das multinationale Unternehmen an der Spitze der globalen Wertschöpfungskette und der Herkunftsstaat dieses Unternehmens – weitgehend außer Reichweite traditioneller Formen des gewerkschaftlichen Kampfes liegen.

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Hoffnung durch das Lieferkettengesetz

Im Laufe der letzten Jahrzehnte haben daher Gewerkschaften und Arbeiter*innenbewegungen in ganz Südasien eine Reihe von länderübergreifenden rechtlichen Maßnahmen und Strategien entwickelt, um diese Regelungs- und insbesondere Durchsetzungslücke zu schließen. Eine davon war beispielsweise der Versuch von Überlebenden und Hinterbliebenen des Ali Enterprises Fabrikbrands mit der Unterstützung der pakistanischen Gewerkschaft NTUF und des ECCHR, neben den lokal Verantwortlichen auch das deutsche Textilunternehmen KiK, für das die Fabrik hauptsächlich produzierte, durch eine Schadensersatzklage vor dem Landgericht Dortmund zur Verantwortung zu ziehen. Obwohl das Verfahren am Ende an einer juristischen Formalität scheiterte, führte der durch die öffentliche Mobilisierung rund um das Verfahren erzeugte Druck zur außergerichtlichen Zahlung von Langzeitentschädigungen in Millionenhöhe durch KiK. Zusätzlich trug das Verfahren maßgeblich zu Debatten über die Notwendigkeit der gesetzlichen Regelung verbindlicher menschenrechtlicher Sorgfaltspflichten transnationaler Unternehmen zum Schutz von Arbeiter*innen bei. 

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Seit dem 1. Januar 2023 gelten nun entsprechende gesetzliche Sorgfaltspflichten für Unternehmen mit Sitz und mehr als 3.000, seit dem 1. Januar 2024 mit mehr als 1.000, Mitarbeiter*innen in Deutschland. Das deutsche Lieferkettengesetz (LkSG) verpflichtet Unternehmen, die Menschenrechte der Arbeiter*innen in ihren Wertschöpfungsketten zu achten. Zu den explizit geschützten Rechten gehört neben der Gewährung der Gewerkschaftsfreiheit unter anderem auch die Zahlung eines angemessenen Lohns, beziehungsweise mindestens des am Beschäftigungsort geltenden Mindestlohns.

Nachdem die pakistanischen Gewerkschaften NTUF und HBWWF in den letzten beiden Jahren gemeinsam mit anderen örtlichen Gewerkschaften eine signifikante Erhöhung des Mindestlohns für ungelernte Arbeiter*innen in Sindh errungen haben, geht es jetzt darum, die tatsächliche Zahlung der erhöhten Löhne durchzusetzen. Hierfür versuchen sie mit Unterstützung der Organisationen Femnet und ECCHR nun auch das LkSG zu mobilisieren.  

Dazu führten sie in der ersten Jahreshälfte 2023 zunächst ein Studie durch, in der von den örtlichen Gewerkschaften geschulte Arbeiter*innen über 350 Textilarbeiter*innen aus über 20 Fabriken in Karachi, die von dem LkSG erfasste Unternehmen beliefern, zum Thema Mindestlöhne und weiteren Arbeitsrechte befragten. Die Ergebnisse bestätigten, was seit Jahren über die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen in pakistanischen Textilfabriken berichtet wird: 97 Prozent der befragten Arbeiter*innen verfügten über keinen schriftlichen Arbeitsvertrag. Dieser ist jedoch die Grundlage dafür, um etwa die Einhaltung von Rechten gegenüber Arbeitergebern und Behörden einfordern zu können. Auch sind sie nötig, um sich an der Gründung einer Gewerkschaft beteiligen zu können.

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Viele Arbeiter*innen waren über Dritte beschäftigt und wurden nach Akkordlohn bezahlt. Die allermeisten waren weder sozial- noch rentenversichert oder wussten nicht, ob sie es sind. Etwa ein Drittel der Arbeiter*innen erhielt nicht einmal den zum Zeitpunkt der Studie geltenden gesetzlichen Mindestlohn für ungelernte Arbeiter*innen in Höhe 25.000 Pakistanischen Rupien (umgerechnet etwa 83 Euro; seit Juli 2023 beträgt dieser Mindestlohn umgerechnet etwa 106 Euro). Viele der Befragten, die angaben, nominell den Mindestlohn zu erhalten, konnten diesen nur erreichen, indem sie teilweise exzessive Überstunden leisteten. Nicht wenige von ihnen bekamen außerdem  keinen bezahlten Urlaub. Oft handelte es sich um gelernte Arbeiter*innen, die nach örtlichem Recht Anspruch auf eine höhere Vergütung hatten.

Nach Auswertung der Studie haben NTUF, ECCHR und Femnet die betroffenen europäischen Unternehmen über die Ergebnisse informiert und sie dazu aufgefordert, im Sinne ihrer gesetzlichen Verpflichtungen nach dem LkSG angemessene und wirksame Präventions- und Abhilfemaßnahmen zu ergreifen – einerseits um die konkret geschilderten Verletzungen von Arbeitsrechten in ihren Wertschöpfungsketten zu beenden beziehungsweise die Missstände zumindest abzumildern und andererseits um entsprechenden Verletzungen im Rahmen präventiver Bemühungen strukturell entgegenzuwirken.

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Alle angeschriebenen Unternehmen haben reagiert – jedoch sehr unterschiedlich. Einige reagierten mit den üblichen oberflächlichen Verweisen auf wohlklingende Selbstverpflichtungen, Verhaltenskodizes für Lieferant*innen und Sozialaudits. Andere waren erstmals bereit, sich mit lokalen Gewerkschaften an einen Tisch zu setzen, um sich ein realistisches Bild von den Arbeitsbedingungen vor Ort zu verschaffen und ernsthaft über mögliche Lösungsansätze zu verhandeln und auch ihre Zulieferer zu Verhandlungen mit den Gewerkschaften aufzufordern. Das ist neu:

Nach 40 Jahren Einsatz für Arbeiter*innenrechte in Pakistan ist es das erste Mal, dass ich mit europäischen Unternehmen, deren Waren die pakistanischen Arbeiter*innen produzieren, an einem Tisch sitze.“

Nasir Mansoor, Generalsekretär der NTUF

Diese Gespräche sind ein direkter Effekt des neuen Gesetzes. Sie zeigen, dass das LkSG bereits jetzt ein wirksames Instrument sein kann, das Arbeiter*innen und Gewerkschaften nutzen können, um ihren Stimmen entlang der globalisierten Wertschöpfungsketten in den Herkunftsländern und den Zentralen der multinationalen Unternehmen Gehör zu verschaffen.

Das Potenzial anstehender Rechtskämpfe

Natürlich ist das nur ein erster Schritt. Dies bedeutet noch nicht, dass sich die Arbeitsbedingungen vor Ort seit Inkrafttreten des LkSG signifikant verbessert haben. Selbst ein perfektes Gesetz – wovon das LkSG meilenweit entfernt ist – wird nur durch sein Inkrafttreten keine Veränderungen der materiellen Macht- und Lebensverhältnisse entlang globaler Wertschöpfungsketten herbeiführen. Und die Widerstände gegen die Umsetzung des Gesetzes sind enorm – in den Produktionsländern genauso wie in den Herkunftsstaaten der transnationalen Unternehmen, in denen Unternehmensverbände massiv gegen eine wirksame Umsetzung des LkSG und die Verabschiedung einer entsprechenden Gesetzgebung auf EU-Ebene mobilisieren.

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Offen ist bisher auch, welche Rolle das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) als die für die Durchsetzung des Gesetzes zuständige Behörde in den anstehenden Kämpfen um die Auslegung und Umsetzung des Gesetzes einnehmen wird. Einerseits ist der Wille des BAFA erkennbar, Hinweise und Beschwerden von Betroffenen ernst zu nehmen. Andererseits deuten erste Erfahrungen mit eingereichten Beschwerden auf eine besorgniserregende Tendenz der Behörde hin, Betroffene von den Verfahren weitestgehend auszuschließen. Darüber hinaus hat das BAFA bisher wenig Bereitschaft gezeigt, zu der Frage Stellung zu nehmen, was im Einzelfall wirksame und angemessene Präventions- und Abhilfemaßnahmen im Sinne des Gesetzes sind.

Für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen vor Ort wird es aber entscheidend sein, ob das BAFA Standards für wirksame Sorgfaltsmaßnahmen entwickelt und durchsetzt. Das BAFA darf dabei der Verringerung der operativen Belastung für Unternehmen keinen Vorrang vor den Bedürfnissen von Arbeitnehmer*innen und Gemeinschaften einräumen. Die Stimmen der Arbeiter*innen und ihrer gewerkschaftlichen Vertreter*innen müssen in all diesen Prozessen Gehör bekommen.

So wie das LkSG selbst ohne die zivilgesellschaftlichen Kämpfe in und außerhalb von Gerichten – zum Beispiel rund um den Ali Enterprise Fall – gar nicht erst verabschiedet worden wäre, so wird auch eine Umsetzung des Gesetzes im Sinne der Arbeiter*innen in den globalen Wertschöpfungsketten Stück für Stück erkämpft werden müssen. Kein Gesetz und kein transnationales Beschwerde- oder Gerichtsverfahren können die kollektive Organisierung von Arbeiter*innen und den Aufbau starker gewerkschaftlicher Bewegungen und transnationaler Kampagnen ersetzen. Das Beispiel der Textilindustrie in Pakistan zeigt jedoch, dass gewerkschaftliche Bewegungen mit dem LkSG ein neues Instrument zur Hand haben, das sie sich aneignen und für ihre Kämpfe nutzbar machen können.

Annabell Brüggemann ist Legal Advisor im Programmbereich Wirtschaft und Menschenrechte des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin.

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