Salvador Allende wurde 1970 zum Präsidenten Chiles gewählt. Der Putsch gegen ihn legte den Grundstein für das spätere "neolieberale Experimentierfeld".
Südlink-Magazin

Schockbehandlung aus dem Lehrbuch

Der Militärputsch im September 1973 ermöglichte die Durchsetzung des Neoliberalismus in Chile.

von Urs Müller-Plantenberg
Veröffentlicht 4. SEPTEMBER 2023

Die Militärdiktatur machte es möglich: In Chile konnten die neoliberalen Theoretiker in den 1970er Jahren ihre Konzepte erstmals unter laborähnlichen Bedingungen testen. Die Auswirkungen waren fatal und haben das südamerikanische Land nachhaltig verändert.

Wenn heute vom 11. September gesprochen wird, so verbindet man damit meistens den Terroranschlag auf die Türme des World Trade Centers in New York am 11. September 2001. An den Putsch der chilenischen Militärs in Chile am selben Tag im Jahr 1973 denken die wenigsten. Und wenn heute vom Siegeszug des Neoliberalismus gesprochen wird, so stehen meistens die Namen von Margaret Thatcher und Ronald Reagan für den Beginn dieses Siegeszuges, ohne dass präsent ist, dass schon Jahre vorher in Chile neoliberale Konzepte mit aller Macht durchgesetzt wurden. Wenn schließlich von der Durchsetzung des Neoliberalismus in Chile die Rede ist, so wird häufig genug davon ausgegangen, dass diese Durchsetzung das erklärte Ziel der putschenden Militärs gewesen sei. Nichts falscher als das.

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Südlink 205 - Neoliberalismus
Eine Ideologie der Ungleichheit und ihre Folgen | September 2023
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Südlink 205 - Neoliberalismus
Eine Ideologie der Ungleichheit und ihre Folgen | September 2023
Seinen Siegeszug im Globalen Süden begann der Neoliberalismus mit den Militärdiktaturen der 1970er Jahre in Lateinamerika. Bald setzten auch Regierungen im globalen Norden auf diese Ideologie der Ungleichheit. Bis heute ist er in vielen Ländern weltweit wirkmächtig.

Als die Generäle 1973 in Chile die Macht übernahmen, gab es zwar schon einen fertigen Plan für eine neoliberale Transformation der Wirtschaft, aber er war den Militärs nicht bekannt. Augusto Pinochet und seine Kollegen hatten kein klar ausgearbeitetes Regierungsprojekt und ihr Putsch war zunächst nicht mehr als eine Reaktion auf die Regierung von Salvador Allende und auf die Radikalisierung der politischen und sozialen Situation, die sie als schwere Bedrohung der nationalen Sicherheit und die ihrer eigenen Existenz als Institution empfanden. Ihr Hauptprojekt war ein politisches, die „Ausmerzung des marxistischen Krebsgeschwürs“, wie das der Luftwaffengeneral Gustavo Leigh nannte.

Die Marine, die zu Beginn die Verantwortung für die Wirtschaft übernommen hatte, teilte nur die allgemeine Ansicht, dass die Lage schwierig sei. Seit Ende 1972 hatten einige hohe Offiziere der Marine Kontakte zu einer Gruppe von Ökonomen hergestellt, die heimlich an der Vorbereitung eines alternativen Regierungsplans arbeiteten. Am Tag des Militärputsches war dieser Plan fertig und schon an Offiziere der drei Teilstreitkräfte verteilt. Die neuen Machthaber bevorzugten jedoch anfänglich im Wunsch nach internationaler Anerkennung Personen, denen sie ein höheres Prestige zuschrieben, weil diese schon unter dem christdemokratischen Präsidenten Eduardo Frei (1964-1970) höchste Posten bekleidet hatten.

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Die Chicago Boys treten auf den Plan

Sehr bald aber wurde klar, dass die Militärjunta politisch mehr wollte als nur eine Wiederherstellung der Situation, wie sie vor der Wahl Allendes geherrscht hatte. Hernán Cubillos von der Geschäftsleitung der Tageszeitung El Mercurio, des Zentralorgans der chilenischen Großbourgeoisie, empfahl den Admirälen dann wärmstens jene Gruppe von Ökonomen, deren Mehrheit von der Katholischen Universität kam und die insgeheim seit 1972 einen Plan für die Destabilisierung und den Sturz der linken Regierung ausgearbeitet hatte, der außerdem auch ein Regierungsprogramm für diesen Fall enthielt. Eine Untersuchungskommission des Senats der USA hat später bekannt gemacht, dass die Gelder für die Aktivitäten dieser Mannschaft von der CIA über Kanäle bereitgestellt wurden, die unter Beteiligung chilenischer Unternehmerorganisationen hergestellt worden waren. Da die Mehrheit dieser Ökonomen in Chicago studiert hatten, wurden sie als die Chicago Boys bekannt.

Bis Anfang 1975 hatte die Mannschaft aus Chicago schwer um die Kontrolle der Wirtschaftspolitik zu kämpfen. Während dieser ersten anderthalb Jahre nach dem Militärputsch zielte die Wirtschaftspolitik hauptsächlich auf die Korrektur der während der Allende-Regierung entstandenen Ungleichgewichte. Die mit der Wirtschaft beauftragten Militärs widmeten folglich am Anfang ihre Hauptanstrengungen dem Ausgleich des Staatshaushalts und der Verminderung der Inflation. Auch das erste vornehmlich von Zivilisten gestellte Wirtschaftsteam bekräftigte die Absicht, die Inflation durch gemäßigte Schnitte im Staatshaushalt zu vermindern, weil man fürchtete, dass drastische Lösungen katastrophale Ergebnisse zeitigen würden.

Solche katastrophalen Ergebnisse wurden dann tatsächlich mit der „Schockbehandlung“ erreicht, die im April 1975 eingeleitet wurde. Die Vorherrschaft der Chicago-Mannschaft ergab sich gleichzeitig damit. Die „schrittweise“ Inflationsbekämpfung wurde verworfen und die Kürzung des Staatshaushalts drastisch verstärkt. Diese Maßnahmen stürzten die Wirtschaft in eine tiefe Rezession, während derer das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 12,9 Prozent sank.>

Zwischen 1973 und 1980 wurden buchstäblich alle Kontrollen der Regierung über die Einzelhandelspreise abgeschafft; nur die Löhne, also die Preise für die Ware Arbeitskraft, blieben streng kontrolliert.

Der Prozess der „Marktöffnung“ für ausländische Operationen verlief ebenso schnell. Die durchschnittlichen Einfuhrzölle wurden Schritt für Schritt von 92 auf 10 Prozent gesenkt und alle Einfuhrbeschränkungen beseitigt.

Zwischen 1973 und 1979 gingen die Regierungsausgaben von 40 Prozent auf 26 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zurück. Diese Reduzierungen, die auf eine Verminderung des Haushaltsdefizits und der Inflation zielten, wurden auch beibehalten, nachdem das Defizit beseitigt war. Die Beschäftigung im Staatsapparat sank in weniger als vier Jahren um fast 20 Prozent: Die Gesamtzahl der Staatsbediensteten sank von 360.000 im Jahr 1974 auf etwas mehr als 290.000 im Jahr 1978.

Darüber hinaus konzentrierten die Chicago Boys ihre Anstrengungen darauf, die Logik des Marktes auf die Gesamtheit der gesellschaftlichen Beziehungen auszudehnen. Die sogenannten „Modernisierungen“ bedeuteten die Privatisierung der grundlegenden sozialen Dienste im Gesundheitswesen, im Bildungswesen und in der Sozialversicherung, die Ausarbeitung eines „Plan Laboral“, der dazu bestimmt war, mittels der Repression der existierenden Gewerkschaften „eine freie Gewerkschaftsbewegung“ zu entwickeln. Alle diese Maßnahmen zielten gleichzeitig auf die Reduzierung der Macht des Staates und auf die Atomisierung der zivilen Gesellschaft.

Trotz der massiven Verfolgung von Demokrat*innen und Sozialist*innen, trotz der Ermordung von Tausenden Regimegegner*innen blieb die Loyalität der Gruppe gegenüber dem Diktator Pinochet unerschütterlich, und ihr Einfluss auf den Diskurs der regierenden Militärmannschaft wurde immer offenkundiger. In El Mercurio wurde das Projekt „eines Bündnisses zwischen den Militärs und den Ökonomen“ offen gefeiert.

Die Schockbehandlung und die Einschränkung des Staatsapparates hatten verheerende gesellschaftliche Wirkungen auf die Mittelklasse und ihre Entwicklungsaussichten; gleichzeitig war die Arbeitslosigkeit auf bis dahin unbekannte Höhen von weit über 30 Prozent gestiegen. Sozialen Kosten dieser Größenordnung hätte man unter demokratischen Verhältnissen nicht entgegentreten können. Der Autoritarismus war also für die neoliberale „Revolution“ ein lebenswichtiges Element.

Kritische Stellungnahmen von Verbänden, politischen Führern und Kirchenoberen wurden als unqualifizierte Behauptungen von Leuten abgetan, die einer der Wissenschaft fremden, vormodernen Welt verhaftet waren.

Von der Klassenneutralität, derer sich der „wissenschaftliche“ Neoliberalismus so sehr rühmte, konnte dabei keine Rede sein. Das Zerstörungswerk war nämlich verbunden mit einer beispiellosen Umverteilung von Einkommen und Vermögen zu Ungunsten der ärmeren Schichten der Bevölkerung, Chile wurde eines der Länder in der Welt, in denen Einkommen und Vermögen am ungleichsten verteilt ist.

Und während die neoliberale Ideologie behauptet, dass die Entfernung der Politik aus dem Wirtschaftsleben die sicherste Garantie dafür biete, dass es zu Diskriminierungen und zu Korruption nicht kommen könne, hat die neoliberale Politik durch Knebelung der Gewerkschaften und Verschleuderung der Staatsunternehmen große Teile der Bevölkerung bewusst diskriminiert und der Korruption Vorschub geleistet.

Das bleibende Ergebnis der neoliberalen „Revolution“ besteht aber vor allem darin, dass die sogenannten „Modernisierungen“ in fast allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens – Bildungswesen, Gesundheitswesen, Sozialversicherung, Arbeitsordnung, Justiz usw. – eine Atomisierung der Gesellschaft hervorgebracht haben, wie sie in Chile viele Jahrzehnte lang nicht bekannt gewesen war. Die Menschen wurden mit aller Macht dazu gebracht, nur noch das eigene persönliche Wohlergehen zum Maßstab aller Dinge zu machen. Solidarität – für Friedrich August von Hayek das Kennzeichen der unzivilisierten Urhorde, im Chile bis 1973 aber eine sehr verbreitete Tugend – ist nicht mehr gefragt.

Die Demokratisierung, die 1990 zum Ende der Militärdiktatur und zur Wahl einer demokratisch orientierten Regierung aus Christdemokrat*innen und Sozialist*innen geführt hat, hat an diesem Zustand nichts Wesentliches geändert. Hatten die Ökonomen aus diesen demokratischen Parteien noch bis 1989 die neoliberale Theorie und Praxis aufs Heftigste kritisiert, so liefen sie nun mit fliegenden Fahnen über, um das seit 1986 existierende steile Wirtschaftswachstum nicht zu gefährden. Seither wird jede Abweichung vom Pfad der neoliberalen Tugend als „populistische“ Verblendung aufs Schärfste gebrandmarkt.

Wesentlichen Veränderungen in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik waren ohnehin durch die von Diktator Pinochet durchgesetzte Verfassung von 1980 enge Schranken gesetzt. Von einer Demokratie, in der die Mehrheit die Chance hätte, das Schicksal des Landes in eine andere Richtung zu lenken, ist Chile deshalb bisher noch entfernt, zumal die bisherigen Bemühungen um eine neue Verfassung gescheitert sind.

Urs Müller-Plantenberg hat seit 1971 am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin und zuletzt bis 2007 als Professor an der Warschauer Universität Politische Soziologie Lateinamerikas gelehrt. 1973 hat er die „Chile-Nachrichten“ (heute „Lateinamerika Nachrichten“) mitgegründet.

Urs Müller-Plantenberg hat seit 1971 am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin und zuletzt bis 2007 als Professor an der Warschauer Universität Politische Soziologie Lateinamerikas gelehrt. 1973 hat er die „Chile-Nachrichten“ (heute „Lateinamerika Nachrichten“) mitgegründet.

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