Südlink-Magazin

Von den Schwierigkeiten mit den Utopien

INKOTA in der DDR: die Suche nach Gerechtigkeit auf globaler Ebene und vor der eigenen Haustür

von Almuth Berger
Veröffentlicht 11. JUNE 2021

Die Suche nach Gerechtigkeit begleitet die Geschichte INKOTAs von Anfang an. Es war stets eine Utopie, die auf Veränderungen auf globaler Ebene wie auch im eigenen Land zielte. In der DDR bedeutete dies manchmal auch die Konfrontation mit einem Staat, der ein Monopol auf Solidarität und Gerechtigkeit beanspruchte, dessen konkretes Handeln aber regelmäßig in Wiederstreit mit diesen Zielen geriet. Ein Widerspruch, den auch INKOTA immer wieder aufzeigte.

„Über die Utopien der Gerechtigkeitsbewegung in der DDR“ soll ich etwas schreiben. Etwas, was zum 50.Geburtstag einer Organisation passt, die ihre Entstehung der Empörung über Ungerechtigkeit verdankt – der Empörung über die ungerechte Verteilung der Güter in der Welt. Und dann waren da Menschen, die sich anstecken ließen von dieser Empörung – einzelne, manchmal kleine Gruppen.

Eine „Gerechtigkeitsbewegung“ ist daraus erst einmal noch nicht entstanden. Aber wie war das überhaupt damals mit unseren Utopien? Welche Utopien hatte man in einem Staat, der sich den Anspruch auf eine gerechte Gesellschaftsordnung auf die Fahnen schrieb, in der gleiche Rechte für alle gelten sollten? Welche Utopien hatte man in einem Staat, der sich selbst als einen bezeichnete, der der Völkerfreundschaft verpflichtet ist, der Solidarität mit den Unterdrückten, mit denen, die sich im Befreiungskampf gegen Imperialismus und Kolonialismus befanden, mit denen, die gegen Rassismus und Apartheidpolitik aufstanden? Galt diese weltweite Solidarität nicht als eines der identitätsstiftenden Merkmale der DDR?

Warum wir eigene Utopien entwickelten

War es da nicht verlockend, sich anzuschließen? Warum eigene Utopien entwickeln, wenn der Staat Ziele vorgab, die man unterstützen konnte? Musste man immer die Konfrontation suchen? Da könnte man doch gemeinsam handeln, und Angela Davis und Martin Luther King, Nelson Mandela, Che Guevara oder Salvador Allende waren doch Vorbilder und Symbolfiguren für viele?! Also: Hoch die internationale Solidarität!

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Es gab Menschen, die diese Ziele ehrlichen Herzens vertraten und die überzeugt waren, dass der sozialistische Staat in diesem Sinne handelte, dass Solidarität und Ideen einer gerechten Verteilung der Güter der Welt seine Politik bestimmten – in den wirtschaftlichen Beziehungen zu Ländern der „Zweidrittel-Welt“, wie wir damals sagten, oder bei den Verträgen für den Einsatz von Arbeitskräften aus diesen Ländern in der DDR. Ein „Solidaritätskomitee“ und eine „Liga für Völkerfreundschaft“ sorgten doch für die Umsetzung der Ziele. Und seinen „Soli“-Beitrag zahlte man auch jeden Monat.

Dann gab es andere, die diese Ziele auch vertraten, aber die Selbstzuschreibungen mit den Realitäten in der DDR verglichen. Sie fanden viele Widersprüche: Völkerfreundschaft, die plötzlich nicht mehr galt, wenn es – wie bei einer Freundin - um die Eheschließung mit einem Afrikaner ging, was zum Berufsverbot führen konnte. Oder die Solidarität, mit der der Einsatz von vielen Tausend Männern und Frauen aus Vietnam und Mosambik, aus Kuba und Angola und anderen Ländern begründet wurde, die aber von Jahr zu Jahr stärker den kommerziellen Interessen und wirtschaftlichen Notwendigkeiten der DDR untergeordnet wurde. Oder eine Völkerfreundschaft, die nicht gelebt werden konnte, weil Mauern und vielfältige Abgrenzungen das nicht zuließen. Und schließlich auch der Einsatz gegen Rassismus, Menschenrechtsverletzungen und Ungerechtigkeiten, der gefordert wurde, wenn sie weit weg geschahen – in Südafrika oder in den USA –, die aber nicht zur Sprache gebracht werden durften, wenn sie im eigenen Land geschahen.

Zum Glück konnten diese Widersprüche die Utopien nicht verdrängen: die einer gerechten Weltwirtschaftsordnung, die eines Zusammenlebens von Menschen verschiedener Herkunft, Kultur und Religion, die der Ächtung von Kriegen und von gewaltfreien Konfliktlösungen und die von einem verantwortungsvollen Umgang mit unserer Umwelt. Sie waren lebendig bei Menschen mit einem christlichen Hintergrund oder einem humanistischen, in Kirchengemeinden oder in den vielen kleinen Gruppen, die sich zusammenfanden, sich informierten, sich austauschten, Ideen entwickelten oder Ideen anderer aufgriffen.

Es gab vielleicht nicht die Gerechtigkeitsbewegung, aber viele von der Sehnsucht nach Gerechtigkeit bewegte Menschen und Gruppen. Wir wollten etwas tun gegen Rassismus und Apartheid. Wir beneideten unsere westdeutschen Freund*innen, die die Deutsche Bank mit ihrem Geschäft im Apartheidstaat boykottierten und keine Früchte aus Südafrika kauften. In unseren Kaufhallen gab es kein Obst aus Südafrika, und die Deutsche Bank hatte keine Filialen in der DDR. Aber ab 1969 gab es ein Antirassismusprogramm des Ökumenischen Rates der Kirchen. Das fand großen Widerhall in den Kirchengemeinden und auch Unterstützung durch die Kirchenleitungen. Wir waren froh über konkrete Beteiligungsmöglichkeiten an diesem Programm, über Unterstützung von Befreiungsbewegungen und Bewegungen gegen Apartheid oder von Staaten, die nach oft jahrhundertelanger Kolonialherrschaft gerade erst die Unabhängigkeit erkämpft hatten.

Wir nahmen in Kauf, dass die offiziellen Äußerungen der DDR-Regierung solche Aktivitäten guthießen und unterstützten. Wir nahmen auch in Kauf, dass in den Kirchengemeinden für Schulbücher in Mosambik oder für Brunnen in Sambia gespendetes Geld nur mit Hilfe des Solidaritätskomitees oder der Liga für Völkerfreundschaft in konkrete Warenlieferungen umgesetzt werden konnten.

Und wir nahmen in Kauf, dass wir verdächtigt wurden, uns der ideologisch geprägten Entwicklungspolitik der DDR zu unterwerfen. Wir wollten uns unsere Utopien dadurch nicht kaputt machen lassen. Sie waren uns zu wichtig. Und sie gingen oft weit über das hinaus, was die offizielle DDR-Politik gut und nützlich für ihr Ansehen befand. Diese Utopien schauten über den Tellerrand, aber sie behielten auch den „eigenen Teller“ im Blick: die Diskriminierungen, Ungerechtigkeiten, Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land.

Vielleicht entstand daraus eine spezifische Art der Bewegung für Gerechtigkeit in der DDR. In der Bundesrepublik hatten sich die meisten Gruppen in diesem Bereich entweder für entwicklungspolitische Arbeit oder für Menschenrechtsfragen, die Belange von Geflüchteten oder Arbeitsmigrant*innen entschieden und haben dabei oft eine hohe Kompetenz in der jeweiligen Thematik entwickelt.

In der DDR hatten wir die Schwierigkeiten entwicklungspolitischer Arbeit ohne konvertierbare Währung; es gab nur kleine Gruppen von Engagierten in diesem Bereich. Auch gab es nur wenige Migrant*innen, für die sich überdies der Staat, die Partei und die einschlägigen Organisationen als zuständig erklärten und deren Bedingungen des Aufenthalts als „geheime Verschlusssache“ behandelt wurden.

Was aus den Utopien entstand

So wurde es für viele Gruppen selbstverständlich, Fragen der Gerechtigkeit in der einen Welt mit denen nach der Gerechtigkeit vor der Haustür zu verbinden. Ideen und Anstöße aus den Befreiungstheologien Lateinamerikas oder den USA wurden diskutiert, man suchte nach Alternativen zu den stereotypen und starren Denk- und Sprachmustern der SED.

Ein Beispiel für viele andere: Im Juni 1986 gestaltete die Junge Gemeinde der Berliner Bartholomäusgemeinde einen eindrücklichen Gottesdienst, der an die Schüler-Aufstände in Soweto in Südafrika zehn Jahren zuvor erinnerte. Einige der Jugendlichen ließ diese Thematik nicht los. Sie gründeten die Gruppe “Xitsikwane“, informierten sich über das südliche Afrika, knüpften Kontakte zu südafrikanischen Studierenden in Berlin und suchten nach konkreten Handlungsmöglichkeiten.

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INKOTA wurde dabei ein hilfreicher und kompetenter Ansprechpartner. Ab Ende 1986 wurde die Bartholomäusgemeinde ein Anlaufpunkt und bald auch zu einem Stück „Heimat“ für junge mosambikanische Christen*innen, die im Rahmen der Regierungsabkommen in der DDR lebten und arbeiteten. Gottesdienste, Feste und gemeinsame Ferienwochen ermöglichten erste Begegnungen und Kontakte, aus denen sehr bald der Wunsch nach regelmäßigen Angeboten für Austausch und Begegnung entstand – mit den Mosambikaner*innen, aber auch mit anderen Migrant*innen , die zum Studium oder zur Arbeit in der DDR waren.

Ein Begegnungszentrum wollten wir einrichten, in dem man sich ohne staatliche Bevormundung treffen und kennenlernen konnte. Der Gemeindekirchenrat wurde für die Idee gewonnen, eine Nikaragua-Gruppe kam dazu. Nach intensiven Planungen konnte im Herbst 1988 trotz staatlicher Verhinderungsversuche ein „Begegnungszentrum für Aus- und Inländer“ gegründet werden. Einmal in der Woche verwandelte sich die einfache Baracke der Bartholomäusgemeinde in die „Cabana“ – eine bescheidene „kleine Hütte“, aber ein Ort, an dem sich Menschen aus vielen Ländern treffen, austauschen, miteinander reden und sich wohlfühlen konnten.

Unterstützung kam von INKOTA und vom Ökumenisch-Missionarischen Zentrum, die damals beide in der Berliner Georgenkirchstraße und damit auch in der Bartholomäusgemeinde beheimatet waren. Die Idee machte Schule und es entstand die „Cabana-Bewegung“, mit ähnlichen Orten in vielen Städten der DDR. Und fast überall trafen sich entwicklungspolitisches Engagement mit dem Einsatz für Ausländer*innen und der Bereitschaft, für ihre Rechte einzutreten.

Den Höhepunkt dieser Entwicklung erlebten wir in der Ökumenischen Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung in den Jahren 1988 und 1989. Dieser für Kirche und Gesellschaft der DDR so wichtige Prozess mit seinen Auswirkungen – nicht zuletzt auf die Geschehnisse der Friedlichen Revolution – verdient eine gesonderte Darstellung und hat sie an vielen Stellen auch erhalten. Wir sollten aber die vielen kleinen Bemühungen nicht vergessen, die dazu beigetragen haben, dass „eine Hoffnung gehen lernte“. Gegen viele Widerstände wurden jahrzehntelang aufrechterhaltene Utopien, Hoffnungen, Visionen stark und nachdrücklich ausgedrückt – als vorrangige Verpflichtungen, Gerechtigkeit für Benachteiligte und Unterdrückte zu schaffen, dem Frieden mit gewaltfreien Mitteln zu dienen und das Leben auf dieser Erde zu schützen und zu fördern. Mehr als 10.000 Menschen aus dem ganzen Land und aus allen Kirchen hatten sich geäußert und ihre Betroffenheiten, Erwartungen und Forderungen artikuliert. Natürlich war auch INKOTA ein wichtiger Akteur und blieb dem Anspruch treu, sich für Gerechtigkeit in der Nähe und in der Ferne einzusetzen.

Viele der Forderungen aus diesem Prozess fanden sich nach der Friedlichen Revolution wieder: am Entwicklungspolitischen Runden Tisch oder am Zentralen Runden Tisch in der Arbeitsgruppe „Ausländerfragen“. Das war eine Zeit der großen Hoffnungen auf Veränderung. Trotz mancher Enttäuschungen, die darauf folgten, haben wir eines gelernt: Unsere Hoffnungen, unsere Utopien, unsere Visionen dürfen wir uns nicht abhanden kommen lassen. Wir müssen sie weiter miteinander teilen und uns von ihnen antreiben lassen.

Das wünsche ich auch INKOTA zum 50. Geburtstag!

Almuth Berger ist Mitglied des Beirats von INKOTA. Seit 1986 war sie Pastorin der Bartholomäusgemeinde Berlin, 1990 Staatssekretärin und Ausländerbeauftragte beim Ministerrat der DDR und von 1991 bis 2006 Ausländerbeauftragte des Landes Brandenburg.

Almuth Berger ist Mitglied des Beirats von INKOTA. Seit 1986 war sie Pastorin der Bartholomäusgemeinde Berlin, 1990 Staatssekretärin und Ausländerbeauftragte beim Ministerrat der DDR und von 1991 bis 2006 Ausländerbeauftragte des Landes Brandenburg.

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