Südlink-Magazin

Satt alleine reicht nicht

Ernährungsarmut ist ein in Deutschland viel zu wenig beachtetes Problem

von Andreas Aust
Veröffentlicht 16. SEPTEMBER 2021

In Deutschland muss niemand verhungern. Weit verbreitet ist jedoch Ernährungsarmut. Wer darunter leidet, kann sich nicht ausgewogen, gesund und ökologisch nachhaltig ernähren. Zu teuer – und für Menschen, die von der Grundsicherung leben müssen, schlicht nicht vorgesehen. Dies muss sich dringend ändern.

Der Umfang und die Entwicklung von Armut in Deutschland werden vom Paritätischen Gesamtverband jährlich durch die Vorlage des Armutsberichts dokumentiert. Der jüngste Armutsbericht 2020 weist darauf hin, dass die Armutsquote in Deutschland mit 15,9 Prozent einen neuerlichen Höchststand erreicht hat. Auch der offizielle, mittlerweile 6. Armuts-und Reichtumsbericht der Bundesregierung belegt: Es gibt mehr und mehr Menschen, die dauerhaft in Armut leben müssen. Für Arme wird es zudem immer schwieriger, sich aus dieser sozialen Lage zu befreien und sozial aufzusteigen (BMAS 2020).

 

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Armut bedeutet in erster Linie zu wenig Geld zu haben, um die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Die Bundesregierung geht davon aus, dass die grundlegenden Bedürfnisse – Ernährung, Wohnung, Kleidung – gesichert seien. Insbesondere hält sie die Leistungen der Grundsicherung für ausreichend. Ähnliche Befunde präsentiert auch das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung auf der Grundlage von eigenen Befragungen: die Grundversorgung sei gesichert. Demgegenüber soll hier – in Anlehnung an Überlegungen der Arbeitssoziologin Sabine Pfeiffer – gezeigt werden, dass es auch in Deutschland massive Defizite bei der Ernährung – „Ernährungsarmut“ – gibt. Von einem allgemeinen Zugang zu gutem Essen sind wir weit entfernt.

Die Leistungen der Grundsicherung sind zu niedrig

Mehrere Faktoren können angeführt werden, um diese Aussage zu belegen. Erstens reichen die Leistungen der Grundsicherung nicht aus, um sich auskömmlich ernähren zu können (hierzu und zu den folgenden Argumenten: Aust 2020). Dies zeigt bereits der gesunde Menschenverstand, denn für eine*n Erwachsene*n stehen lediglich 150 Euro im Regelbedarf für die kompletten Lebensmittelausgaben pro Monat zur Verfügung. Das sind fünf Euro am Tag für sämtliche Mahlzeiten und Getränke.

Das reicht insbesondere nicht, wenn man sich nicht nur irgendwie sättigen will, sondern sich auch um eine „gute“ Ernährung bemüht. Bislang ist eine gesundheitsförderliche Ernährung finanziell überhaupt nicht möglich: Ernährungsphysiologisch günstigere Lebensmittel wie Obst und Gemüse, Fisch oder mageres Fleisch sind teurer als andere „energiedichte“ Lebensmittel. Daher können Grundsicherungsbeziehende auch die offiziellen Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung nicht einhalten.

 

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„Gute“ Ernährung bedeutet darüber hinaus: Es muss auch möglich sein, ökologisch nachhaltige Produkte zu kaufen. Immerhin ist diese Erkenntnis nun auch im Umfeld der Bundesregierung angekommen. So heißt es in einem Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL, 2020) ausdrücklich: „die derzeitige Grundsicherung reicht ohne weitere Unterstützungsressourcen nicht aus, um eine gesundheitsförderliche Ernährung zu realisieren“. In den Empfehlungen des Gutachtens rät der Beirat der Bundesregierung ausdrücklich dazu, „die Berechnungsmethodik für die Bedarfsermittlung so anzupassen, dass die Grundsicherungsleistungen eine gesundheitsfördernde Ernährung ermöglichen“.

Leider sind diese Empfehlungen beim zuständigen Bundesministerium für Arbeit und Soziales offenkundig nicht angekommen – oder sie wurden schlicht ignoriert: Bei der Neufestsetzung der Leistungen der Grundsicherung haben diese Erkenntnisse keine Rolle gespielt. Die Grundsicherungsleistungen bleiben auch nach der Neufestsetzung zum kommenden Jahr auf demselben unzureichenden Niveau wie zuvor.
Zweitens: die Auswirkungen der zunehmenden „Ernährungsarmut“ werden durch das mittlerweile fast flachendeckende Angebot von den Tafeln und ähnlichen Angeboten zivilgesellschaftlich kompensiert. Die Idee der Tafeln ist so einfach wie bestechend: Lebensmittel, deren Verzehr unbedenklich ist, die aber nach den gängigen Marktprinzipien nicht mehr verkäuflich sind, werden eingesammelt und an bedürftige Menschen abgegeben.

Die Organisation dieses Austausches haben sich die Tafeln zur primären Aufgabe gemacht. Dafür sammeln sie bei Supermärkten, Händlern oder Herstellern Lebensmittel ein und stellen sie bedürftigen Menschen zur Verfügung. Nach eigener Aussage schaffen sie damit einen Ausgleich zwischen Überfluss und Mangel. Die unter Gesichtspunkten einer nachhaltigen Wirtschaftsweise skandalöse Verschwendung und Vernichtung von Lebensmitteln wird zumindest reduziert.
Für bedürftige Menschen werden – zumeist gegen eine symbolische Bezahlung – einwandfreie Nahrungsmittel zur Verfügung gestellt. Die Tafeln sind privat organisiert und gemeinnützig, das heißt sie erwirtschaften mit ihrer Vermittlungstätigkeit keinerlei Gewinne. Ein Großteil der Arbeit wird dezentral durch 60.000 ehrenamtliche Helfer*innen vor Ort geleistet. Nach den jüngsten Zahlen gibt es mittlerweile etwa 950 Tafeln mit mehr als 2.000 Ausgabestellen – ein fast schon flächendeckendes Angebot. Genutzt werden die Tafeln von etwa 1,65 Millionen Menschen.

Um die Tafeln nutzen zu können, muss die Hilfebedürftigkeit belegt werden. Der Großteil der Menschen, die Angebote der Tafeln in Anspruch nehmen, ist demnach auf existenzsichernde Leistungen der Grundsicherung (in einer ihrer verschiedenen Ausprägungen) angewiesen. Die Expansion dieses zivilgesellschaftlichen Angebots ist ein deutlicher Ausdruck von bestehender sozialer Ungleichheit, insbesondere unzureichenden Leistungen der Grundsicherung und von Ernährungsarmut. Der Staat entledigt sich damit ein Stück weit seiner genuinen Verantwortung.
Drittens: Essen erschöpft sich nicht in der Aufnahme von Nährstoffen, sondern ist ein soziales Ereignis. Gemeinsame Mahlzeiten erfüllen nicht nur den Zweck Nahrung und Energie aufzunehmen, sondern sie sind zugleich ein wichtiger Faktor der sozialen Teilhabe. Einkommensarmen Menschen stehen aber in einer durch-kommerzialisierten Gesellschaft kaum noch soziale Orte für gemeinsame Mahlzeiten offen, die kein Geld kosten.

Nach der Auffassung der Bundesregierung sind Ausgaben für auswärtige Mahlzeiten für Hartz-IV-Beziehende sowieso ein unnötiger Luxus. Entsprechende Ausgaben – etwa in einer Eisdiele oder in einer Pizzeria – werden bei der Regelbedarfsermittlung nicht in der tatsächlichen Höhe berücksichtigt. Stattdessen rechnet die Bundesregierung aus, was es kosten würde dieselben Speisen zuhause zu essen. Diese Summe geht dann in den Regelbedarf ein.  

Nachhaltigkeit muss dringend eine soziale Komponente beinhalten
Armut schlägt sich also schon heute in massiven Problemen bei der Ernährung nieder. Absehbar ist darüber hinaus, dass im Rahmen eines – wünschenswerten – ökologischen Umbaus der Landwirtschaft, einer deutlichen Verbesserung des Tierwohls und der generell stärkeren Ausrichtung auf eine nachhaltigere Ernährung auch die Preise für Lebensmittel steigen werden. Dies hat auch jüngst die Vorlage des Berichts der Zukunftskommission Landwirtschaft (2021) noch einmal deutlich gemacht.
Entscheidend für die Akzeptanz dieser Maßnahmen wird sein, dass diese Kosten nicht hauptsächlich über die Preise bei den Konsument*innen abgeladen werden. Das wird zwar für den wohlhabenderen Teil der Mittelschicht kein großes Problem sein, da der Anteil der Haushaltsausgaben für die Ernährung in den letzten Jahrzehnten immer geringer wurde. Wohlhabende Haushalte geben aktuell nur noch zehn Prozent ihres Budgets für Nahrungsmittel aus. Bei den ärmeren Haushalten sind es demgegenüber 17 Prozent, sie würden unter teureren Lebensmitteln besonders leiden.

Eine Politik, die zu einer Verteuerung der Lebensmittel führt, muss daher zwingend und systematisch mit Maßnahmen zum Abbau von sozialer Ungleichheit einhergehen. Stärkung von Nachhaltigkeit muss immer die soziale Komponente beinhalten, sonst kann sie nicht gelingen.

In Bezug auf die Ernährung kann man an verschiedenen Ideen des bereits zitierten Gutachtens des Wissenschaftlichen Beirats beim BMEL anknüpfen: eine Erhöhung der Regelbedarfe in der Grundsicherung für die Ernährung, eine systematische Kompensation steigender Nahrungsmittelpreise für die 40 Prozent einkommensschwächsten Haushalte und ein systematisches Monitoring von Ernährungsarmut. Dies wären ebenso wie der weitere Ausbau von beitragsfreier Kita- und Schulverpflegung sinnvolle erste Schritte zur Bekämpfung von Ernährungsarmut.

Literatur:

Aust, Andreas (2020): Arm, abgehängt, ausgegrenzt. Eine Untersuchung zu Mangellagen eines Lebens mit Hartz IV. Berlin: Paritätischer Gesamtverband.

BMAS (2020): Lebenslagen in Deutschland. Der 6. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Berlin.

Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (2020): Politik für eine nachhaltigere Ernährung. Eine integrierte Ernährungspolitik entwickeln und faire Ernährungsumgebungen gestalten. Gutachten.

Zukunftskommission Landwirtschaft (2021): Zukunft Landwirtschaft. Eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Empfehlungen der Zukunftskommission Landwirtschaft. Rangsdorf.

 

Andreas Aust ist Referent für Sozialpolitik beim Paritätischen Wohlfahrtsverband - Gesamtverband

Andreas Aust ist Referent für Sozialpolitik beim Paritätischen Wohlfahrtsverband - Gesamtverband

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